170 II. Waldgebiet des 'östlichen Kontinents.
»
hälttiissmässig hoch liegt. Denn unter demselben Parallelkreise, wo
der nördliche Ural noch durchaus der baumlosen, arktischen Flora
angehört, sind die Abhänge der lappländischen Gebirge von Wäldern
erfüllt, und es scheidet sich über ihnen eine alpine Region aus, die
bis zum südlichen Norwegen einen in hohem Grade übereinstimmenden
Charakter bewahrt, und in welcher das wilde Rennthier seine
Weidegründe findet. Auch haben wir gesehen, dass in Skandinavien
selbst die Vegetationslinien längs der norwegischen Küste einen
nördlichen Bogen beschreiben, dessen Lage dem Einflüsse des Golfstroms
zuzuschreiben war. Aber um so merkwürdiger ist die Erscheinung,
dass im Gebirge die Anordnung der Pflanzen diesem am
Küstensaum ausgeprägten Verhältniss zu widersprechen scheint, dass
die Regionen an den dem atlantischen Meere zugewendeten Abhängen
in ein tieferes Niveau herabsinken als an der östlichen Abdachung
gegen das schwedische Tiefland. Die Mittelhöhen der Vegetation
liegen unter gleicher Breite höher als am Ural, und dies ist die Wirkung
des Golfstroms, aber auf dem engeren Raum des skandinavischen
Hochlands selbst übt die plastische Form desselben auf die
Pflanzengrenzen und auf die Schneelinie im Verhältniss zu der durch
das Meerwasser gesteigerten Jahreswärme den überwiegenden Einfluss
im entgegengesetzten Sinne. Wir können einen nördlichen,
lappländischen (71 ° bis 63°) und einen südnorwegischen Typus (63°
bis 5g0) der Gebirgsbildung unterscheiden. In beiden Fällen stürzt
das Hochland an seiner Westseite mit ungemeiner Schroffheit von
alpinen Höhen zum atlantischen Meere und zu dessen Fjorden ab,
während die östliche Abdachung sanft oder terrassenförmig geneigt
in die waldigen Tiefebenen Schwedens allmälig hinüberführt. Aber
im Süden des 63. Breitengrads ist zwischen beiden Gehängen die
breite, wellenförmig gebaute Hochfläche der norwegischen Fjelde
eingeschaltet, die, da sie oberhalb der Baumgrenze liegt, die alpine
Region am weitläufigsten entwickelt und einen bedeutenden Theil
des Landes der Benutzung und Ansiedelung entzieht. Auf der
atlantischen Seite erhöht der Golfstrom zwar die Wärme des Jahrs,
aber nicht die des Sommers I29) : denn derselbe wirkt in der Form
des Seeklimas, dessen milder Winter und dessen erweiterte Vegetationszeit
an dem durch die Fjorde so sehr verlängerten Küstensaum
die Vegetationslinien nach Norden rückt. Aber die Höhengrenzen
stehen unter einem anderen, einem stärkeren Einflüsse. Was
das atlantische Meer diesen schroffen Gebirgsabhängen an Wasser-
Skandinavische Fjelde. 171
dampf zuführt, entladet sich hier, so dass die Küste von Bergen zu
den feuchtesten d°) Gegenden Europas gehört. Durch diese Wolkenbildungen
wird die Sommerwärme in den höheren Niveaus herabgedrückt,
und mit ihr sinken die Regionen der Vegetation und die
Schneelinie unter die Norm herab. Sobald aber die Höhe des Ge-
birgsrandes der Fjelde erreicht ist, äussern sich im südlichen Norwegen
die entgegengesetzten Einflüsse des Plateauklimas, nun rücken
nach Maassgabe des trockeneren und verhältnissmässig wärmeren
Sommers alle Grenzen nach aufwärts. Die inneren Fjelde tragen
daher viel weniger ewigen Schnee als diejenigen Gebirge, welche
bei gleicher Höhe dem atlantischen Meere genähert sind. Auf den
Jisbraeern (62°), die der Küste und dem Sognefjord nahe liegen, und
die ein Firndach von über 20 Quadratmeilen, das grösste Norwegens,
besitzen, lässt sich doch noch eine erhöhte Stellung der Schneelinie
erkennen, weil sie mit dem grossen Fjeldplateau Zusammenhängen.
Die tiefste Lage der Vegetationsgrenzen und der Schneelinie zeigt
andererseits der Folgefond (60°), der rings von dicht anschliessenden,
nebelreichen Fjorden umgeben ist, zu welchen zahlreiche Gletscher,
ihre Umgebungen erkältend, hinabsteigen, und dessen kuppenförmige
Plattform (5090 Fuss hoch) grösstentheils mit Pirn bedeckt
ist, der durch seine Masse zugleich die Sommerwärme in Anspruch
nimmt128). Nach den örtlichen Verschiedenheiten der Exposition,
der Neigung, der plastischen Gestalt wechseln in Norwegen die
Höhengrenzen so sehr, dass es schwer hält, Mittelwerte von einiger
Zuverlässigkeit zu erhalten, aber in diesen erst zeigt sich dei Einfluss
des See- oder Plateauklimas. Fragen wir nun, ob dieselben
auf den Küstengebirgen deprimirt oder ob sie auf dem Fjeldplateau
elevirt seien, so weicht die Schneelinie von der für diese Breitengrade
aufgestellten Formel128) in ersterer Beziehung fast ebenso sehr
ab als in letzterer: man kann die mittlere Depression am Folgefond
auf 600 Fuss, die Elevation imBereiche des Fjeldplateau auf 700 Fuss
schätzende). j ch habe diese Verhältnisse mit denen des Himalaja
und Tibets verglichen : Schneegebirge grenzen an ein kahles Hochland,
wo durch die Plateauerwärmung im Gegensatz zu den dem
Meere zugewendeten und durch dasselbe befeuchteten Abhängen a
Höhengrenzen sich verschieben. In Lappland treffen wir auf ähnliche,
vielleicht noch stärker ausgesprochene Gegensätze, aber hier
dürfte der Baumwuchs an der Küste seinen klimatischen Grenzwerth
nach aufwärts kaum erreichen.