166 II. Waldgebiet des 'östlichen Kontinents.
die Temperatur der Oberfläche nicht über den Gefrierpunkt steigen
lässt. Der sogenannte rothe Schnee (Protococcus nivalis) , eine mikroskopische
Alge, welche den ewigen Firn zuweilen mit einem
vegetabilischen Anfluge belebt, ist ein neuer Beweis, dass krypto-
gamische Gewächse bei der Temperatur des schmelzenden Eises gedeihen
können. So reichen auch da, wo der Schnee wegen der Steilheit
der Gehänge nicht haftet, die Steinlichenen der Alpen weit über
die höchsten Phanerogamen hinaus und sind noch auf dem Gipfel
des Montblanc bemerkt worden. Auf den Pirninseln, wie man in dei
Schweiz die wegen ihrer Lage und Abdachung schneefreien Plätze
oberhalb der Schneelinie nennt, wächst aber auch eine beträchtliche
Anzahl alpiner und arktischer Pflanzen von höherer Organisation,
eine Vegetation, die auf den höchsten Berggipfeln Graubündtens von
Heer I23j untersucht wurde. Das höchste Niveau auf dem Piz Linard
(10700 Fussj erreichte eine winzige, rasenförmig auf den Felstrümmern
wachsende Primulacee [Androsace glaciahs), und von diesem
Standorte abwärts bis zur Schneelinie (8500 Fuss) erhebt sich die
Phanerogamenflora in den rhätischen Alpen bis zu clci Ziffer von
gegen 100 Arten, die sich auf 23 Familien vertheilen und also, wenn
auch auf höchst beschränkten Räumlichkeiten, dieselbe Mannigfaltigkeit
zeigen wie die entsprechende Formation des arktischen Gebiets,
ja wie die ganze Flora Spitzbergens. Auch darf man, wenn man
damit das noch viel höhere Ansteigen der Phanerogamen im Himalaja
vergleicht, gewiss behaupten, dass mit jenen höchsten Standoiton
der Phanerogamen in den Alpen ein klimatischer Grenzweith keineswegs
erreicht ist, sondern weiter aufwärts nur die zu ihrer Vegetation
geeigneten Oertlichkeiten fehlen. Denn eine Bodenwärme, die in
jeder Jahreszeit unter dem Gefrierpunkte läge, ist auf schneefreien
Gebirgsstöcken wohl niemals beobachtet worden, so dass auch hier,
so wenig wie in der arktischen Flora, von einer absoluten Grenze
des organischen Lebens die Rede sein könnte. Die Bodenwärme aber
ist es, auf der die Vegetation der Schneeregion beruht, da dem von
der Sonne erwärmten Boden sich die kleinen, niedergedrückten Stauden
anschmiegen, die meist zu polsterförmigen Rasen durch Seitenknospen
sich verjüngen und somit, der Samenreife nicht bedürfend,
auf das kürzeste Zeitmaass ihre Entwickelung beschränken können.
Selbst jene Zwergweiden sind hier noch vertreten, die ihren FIölz-
stamm in den Boden versenken und daher nur durch die das nackte
Trümmergestein treffenden Sonnenstrahlen belebt werden. Auf die
Kürze der Vegetationszeit bei den Pflanzen der Schneeregion schloss
Heer auch aus dem Umstande, dass sie, ins Tiefland versetzt, ohne
Ausnahme als Frühlingsgewächse sich verhielten, die in wenigen
Wochen vom Ausschlagen zur Fruchtreife gelangten, und dabei
zeigten sie die grösste Unempfindlichkeit gegen die Kälte, so dass
sie, selbst in der Blüthezeit vom Frost überfallen, keineswegs zu
leiden schienen. Wenn auch an ihrem hohen Standorte einmal in
einem Jahre durch Schneeverwehung und Lawinen gar kein Frühling
erwachte, würden sie selbst eine mehrjährige Ruhe ertragen,
ohne abzusterben. So wiederholen sich vollständig innerhalb der
Schneeregion dieselben physischen Bedingungen, welche Baer für
die arktische Vegetation auf Nowaja Semlja so charakteristisch gezeichnet
hat. Die Beobachtungen Heer’s sind später von Martins I2^)
wieder aufgenommen und auf andere Theile der Schweizer Alpen
ausgedehnt worden: auf den Grands Mulets am Montblanc (9890 bis
10600 Fuss) fand er noch 24 Phanerogamen, wobei das höchste
Niveau, in welchem sie Vorkommen , fast genau mit dem von Heer
in Graubündten beobachteten übereinstimmt, und sodann wies er
nach, dass auf diesen Standorten eine grössere Zahl von Arten mit
denen der arktischen Floren identisch ist als unter den alpinen Gewächsen
unterhalb der Schneelinie.
Die Schneelinie ist, wenn auch keine absolute Schranke des vegetativen
Lebens, doch einer der wichtigsten Wendepunkte desselben,
weil an ihr die zusammenhängenden Formationen der alpinen Region
auf hören. Wenn die Schneelinie über das durchschnittliche Höhen-
maass sich hebt oder unter demselben zurückbleibt, sehen wir die
nämliche' Erscheinung auch an den tiefer gelegenen Vegetationsgrenzen
sich wiederholen. Dieser Parallelismus hat in sofern etwas
Befremdendes, als die klimatischen Bedingungen, die diesen Verschiebungen
zu Grunde liegen, in dem einen Palle auf das Schmelzen
des unorganischen Firns, in dem anderen auf die Funktionen clci
organischen Saftbewegung sich beziehen. Das Gemeinsame besteht
indessen darin, dass die Schneelinie da liegt, wo die Sommerwärme
nicht mehr ausreicht, die Entblössung des Bodens zu vollenden, und
dass ebenso die Temperaturkurve der warmen Jahreszeit es ist, wodurch
die Dauer der Vegetationsperiode, freilich bei den einzelnen
Gewächsen nach verschiedenen Normen, bestimmt wird. Aber gerade
weil diese Normen verschiedener Art sind, die eine 1 flanze ihre Entwickelung
beschleunigen oder ungleichen Temperaturen sich anbe