Luft und dem Lichte mag aufgegeben werden, wenn es schon schwierig
ist. die Blätter überhaupt in entsprechendem Umfange hervorzubringen
und die Zeit für ihre Ausbildung zu gewinnen. Daher ist
ein höherer Werth auf die rasche Ausbildung des Laubes als auf
die Streckung des Stengels gelegt. Auch bei den grössten Stauden,
die einen Fuss und darüber erreichen, sieht man die untersten Blätter
, die zum Wachsthum den Grund legen, dichter gedrängt als
diejenigen, die später nachfolgen (z. B. Papaver nudicaule, Polemonium
coeruleum var. pulcliellum).
Da ferner die Blätter desselben Stengeltriebes nach einander
sich entwickeln und daher die Vegetationszeit vielleicht nicht genügen
würde, die erforderliche Anzahl zu erzeugen, so dienen verschiedene
Mittel dazu, dieser Einschränkung des Wachsthums entgegen zu
wirken. Die einfachste Einrichtung besteht in der Bildung eines
Rasens, indem der Stengel sich am Grunde in ein System von gleich-
werthigen Zweigen auflöst, die sich gleichzeitig belauben und nun
zur Bereitung der organischen Stoffe Zusammenwirken (z.B. Dryas).
Dabei folgen die unterirdischen Organe einem zweifachen Typus.
Entweder sind sie sehr zart und fadenförmig, die ganze Arbeit der
Ernährung ist dem Laube allein übertragen, und dann haftet das
Gewächs noch mehr an der wärmeren Oberfläche des Erdreichs
(z.B. Silene acaulis, Saxifraga oppositifolia), oder sie bilden, indem
-sie tiefer in den kalten Boden eindringen, einen geräumigen Speicher
für abgelagerte Nährstoffe, aus dem die übrigen Gebilde sich rascher
erneuern können (z.B. Oxyria). Ein anderes Mittel, eine sparsamere
Verwendung der Blattfunktionen zu erreichen, besteht in der Dauer
des Laubes, wenn es von derbem Gewebe sich mehrere Jahre immergrün
und arbeitsfähig erhält (z. B. Diapensia). Dient die unveränderte
Erhaltung der erstarrten Organe unter der Schneedecke dem
Bedürfniss der überwinternden Thiere, so ist sie für das Gewächs
selbst von nicht geringerer Bedeutung, wenn die Thätigkeit desselben
Blatts, ebenso wie bei den Zellenpflanzen, sich im folgenden Sommer
erneuern kann. Schwindet dann allmälig dieses Vermögen, so
sterben die Blätter ab, ohne durch Gliederungen entfernt zu werden;
der untere Theil der Laubrosette wird nach und nach braun, aber
ehe derselbe vollends verwest ist, trägt er noch bei, wie ein Hüllorgan
die versteckte Gipfelknospe zu schützen, aus welcher sich die neuen
Organe gleichzeitig entwickeln. So bleibt zu jeder Zeit die Anzahl
der thätigen Blätter die nämliche, und kein Tag geht der Vegetation
durch Erneuerung der zur Ernährung nothwendigen Organe verloren.
Endlich wird auch die Grösse der Blätter zu einem Hülfsmit-
tel der Zeitbenutzung: um so kleiner sie sind, desto rascher treten
sie leistungsfähig aus der Knospe hervor. Und je weniger organischer
Nährstoff zum Auswachsen der Organe nöthig ist, in desto
kürzerer Zeit kann das bereits thätige Laub ihn bereiten. Bei den
meisten arktischen Pflanzen sind die Blätter in der That von geringer
Grösse, und beschränkt sich die ganze Organisation auf das zur
Erhaltung der Art Nothwendigste, so genügen ihrer wenige (z. B.
Draba). Aber wenn die vom Laube aus ernährten Organe, namentlich
um viele Jahre lang auszudauern, einen beträchtlichen Umfang
erreichen oder von festerem Gewebe gebildet sind, und wenn die
Grösse der Blumen mehr Nahrungsstoff erfordert, so geht dieser Vortheil
in der vermehrten Anzahl der nöthigen Blätter verloren. Auf
die kleinsten Flächen und doch eine verhältnissmässig geringe Anzahl
von Blättern sehen wir eine der wenigen einjährigen Pflanzen beschränkt,
die aber auch diese Kleinheit der Dimensionen in den übrigen
vegetativen Organen , sowie in den Bliithen, inne hält (Koenigia) :
hier muss allein die Erhaltung der Keimkraft des Samens die Einschränkung
des vegetativen Haushalts ersetzen.
So mannigfaltig äussert sich das Streben der organisirenclen
Naturkraft, selbst in einem doch nur so dürftig ausgestatteten Formenkreise
durch Aenderungen des Bildungsplans und durch die
Kombination der Leistungen, bald in einer Richtung, bald in einer
anderen das eine Ziel verfolgend, das andere aufopfernd , den verschiedenen
Aufgaben zu genügen, welche die physischen Schranken
ihr auferlegen. Die Kleinheit der Blätter bringt übrigens auch den
Nachtheil hervor, dass sie bei ihrer schliesslichen Verwesung zu der
Humuserneuerung des Bodens wenig beisteuern können. Und gerade
hierin unterscheidet sich die arktische Vegetation von der der
alpinen Regionen, dass das Humusbedtirfniss in den meisten Fällen
geringer ist. Der Rasen wird bei den Stauden häufiger durch Verzweigungen
über, als in der Erde gebildet, und eben die stärkere
Ausbildung der unterirdischen Organe bei den Alpenpflanzen ist die
Ursache, dass unter denselben weit höhere Stengel und grössere
Organe Vorkommen, deren Wurzeln sich in dem tieferen Humus
ausbreiten. Sie haben nicht das unterirdische Eis zu fliehen, wie
der Rasen der Polarländer, den man leicht vom Boden ablösen
kann.