erklären , weil dieselbe nicht bloss vom Niveau ,, sondern auch von
der plastischen Gestaltung des Gebirges abhängt. Je massiger sich
dasselbe ausdehnt, je ähnlicher seine Oberfläche einer Hochebene
gebildet ist, desto geringer wird die Temperaturabnahme nach oben.
Die Wirkung der solaren Wärme auf den Erdboden ist, wie schon
bei dem arktischen Klima erwähnt wurde, von der Menge der Massen-
theilchen bedingt, die von den Strahlen der Sonne getroffen werden.
Je mehr die zu erwärmende Oberfläche über einer gegebenen Grundfläche
sich vergrössert, ein desto geringerer Antheil von Strahlen
kommt den einzelnen Theilchen zu Gute. Das Gebirge verhält sich
zur Ebene wie ein vom Sturm bewegtes Meer zu einer stillen Wasserfläche
, mit wachsender Höhe der Wogen erweitert sich die Oberfläche,
welche die Atmosphäre berührt. Auf einem schmalen und
steilen Gebirgskamme ist das Verhältniss am ungünstigsten, die Temperaturabnahme
nach aufwärts am raschesten. Eine flache Hochebene
bietet, wie das Tiefland, der Sonne die geringste Fläche dar,
so dass die unveränderliche Zahl der Strahlen die verhältnissmässig
grösste Wirkung hat. Hier heben sich die Pflanzenregionen, auf
den Gebirgsketten sinken sie. Sodann senken sie sich auch unter
dem Einfluss des Seeklimas, weil die Sommerwärme abnimmt, während
es im Tieflande gewisse Pflanzen, deren Ansprüche mässig sind,
zu höheren Polargrenzen hinaufrückt.
Aus diesen Verhältnissen erkennt man, dass die Wiederkehr
der Gebirgspflanzen im Norden nicht von der solaren Wärme unmittelbar,
sondern von den Wirkungen abhängt, welche dieselbe in
dem ihnen zugetheilten Raume hervorzubringen vermag. Eine Vegetationslinie,
die in Frankreich und Russland unter gleicher Polhöhe
liegt, ist ein Maassstab für diejenige Erwärmung der Pflanze, welche
sie von den Sonnenstrahlen empfängt, eine andere, die an den Küsten
zu höheren Breiten übergeht, ist von der Temperatur der Luft,
welche sie umgiebt, und des Bodens, in dem sie wurzelt, abhängig.
In beiden Fällen kann mit der verminderten Jahreswärme eine Verkürzung
der Entwickelungsperiode verbunden sein, aber die eine
Pflanze ist unabhängiger von deren Dauer, die andere von den
Schwankungen der Wärme. Eine gleiche Mitteltemperatur bewirkt,
dass die Gebirgspflanzen unter demselben Meridian in höheren
Breiten wiederkehren. Zuweilen haben sie auch die Fähigkeit,
ihre Entwickelungszeit zu verkürzen und zu verlängern. Es
giebt unter ihnen sogar Arten, die im Gebirge zweijährig sind und
daselbst früher blühen als in der Ebene, wo sie im Frühlinge keimen
und im Herbst desselben Jahrs ihre Samen reifen (Gentiana cam-
pestris).
Es giebt aber auch andere, jedoch viel weniger zahlreiche Gewächse118),
die, wie die Lärche und Cembra-Kiefer, in nordöstlich
gelegenen Tiefebenen wieder auftreten, die zugleich in den
Alpen und in Russland Vorkommen, nicht aber in Skandinavien und
Lappland. In dieser Richtung ist die verkürzte Vegetationszeit das
einzige klimatische Moment, welches sie verbindet. Im Gebirge verspätet
sie sich, weil der Schnee des Winters erst schmelzen muss,
und auch der Sommer bleibt kühl, weil dieses Schmelzen in den höheren
Regionen fortdauert und die Bodenfeuchtigkeit sich zu erwärmen
hindert, welche an den geneigten Abhängen beständig von oben
her gespeist wird. In den nordöstlichen Ebenen giebt es auch keinen
rechten Frühling, weil die Temperaturkurve zu steil ansteigt, aber,
sobald die Nachtfröste vorüber sind, entwickelt sich hohe Sommerwärme.
Jene Pflanzen also, die zugleich im Hochgebirge der Alpen
und in Russland wachsen, sind gegen die Temperaturkurve gleich-
o-ültieer, wenn nur die Phasen der Entwickelung in die angemessenen
Zeitpunkte fallen. Unter ihnen finden sich sowohl Schatten- als
Lichtpflanzen, es kommt nicht darauf an, ob sie von den Sonnenstrahlen
wirklich getroffen werden, sondern ob sie bei verschiedenen
Temperaturen gedeihen können. Im Norden rücken die Alpenflanzen
in die Ebene, wenn sie von der Temperaturkurve während der Vegetationsperiode,
im Nordosten, wenn sie von deren Dauer abhängiger
sind. Die letzteren fliehen das Seeklima Norwegens, weil in demjenigen
Niveau, wo die Vegetationsperiode das ihnen zusagende
Maass hätte, die Temperatur schon zu gering wäre, in den Alpen
kommen sie da fort, wo die angemessene Entwickelungszeit mit zureichender
Wärme verbunden ist. Der Sommer Lithauens ersetzt,
was die alpine Region durch ihre solare Wärme voi dem skandinavischen
Küstenklima voraus hat.
Bei der Zusammenstellung der in der alpinen Region der Alpen
vorkommenden Gewächse fand Christ “ »), dass von gegen 700 Arten
etwa der dritte Theil (3 6 Procent) in den nordischen Gebirgen wiederkehrt
und sich zum Theil in die Polarländer verbreitet. Dass, wenn
eine Wanderung derselben stattgefunden hat, dieselbe in beiden
Richtungen, sowohl von Norden nach Süden als von Süden nach
Norden erfolgte, suchte er aus der alpinen Flora der Sudeten nach-
G r i s e b a c h , Vegetation der E rde . I. 2. Aufl.