Dem Ackerbau unzugänglich, da die Vegetationszeit füi die
Cerealien zu kurz ist, hat der Boden der arktischen Flora für die
nomadisirenden Völkerschaften, die ihn im Sommer mit ihren Heelden
aufsuchen, doch nur eine untergeordnete Bedeutung. Die Formation
der mit Stauden und geringem Graswuchs bewachsenen
Matten ist die einzige, die wenige Wochen hindurch einen Weide-
o-rund gewährt. Es ziehen daher nur einzelne Familien von Samojeden
an den Flüssen aus dem Waldgebiete Sibiriens in das nördliche
Taimyrland, deren jährliche Wanderungen mit denen der Sennwirthe
in den alpinen Gebirgen zu vergleichen sind. Auch da, wo der Sommer
der arktischen Flora am längsten dauert, lässt das Klima nicht
einmal den Anbau der Gerste zu. Selbst der Isländer muss sich mit
Viehzucht und mit dem, was das Meer ihm bietet, begnügen : kaum,
dass er einiges Gemüse sich verschaffen kann. Und doch hat der
Sommer in Reikiavik dieselbe Mittelwärme 22) wie zu Alten in Lappland,
am Kaafjord, dessen Ufer noch innerhalb der Zone der Sommercerealien
liegt. Martins 23) leitet die Erscheinung, dass im südlichen
Island der Ackerbau nicht mehr betrieben werden kann, von
der Feuchtigkeit und Kälte des Vor- und Nachsommers ab : die
Gerste faule gleichsam auf dem Halme, ohne den Samen zu leifen,
und neben dem klaren Himmel komme in Alten auch die etwas
höhere Augustwärme in Betracht, die in Island den erforderlichen
Grenzwerth nicht zu erreichen scheint.
In Europa haben Ackerbau und Baumwuchs eine übei einstimmende
Polargrenze. Aber hier ist durch Heer’s Untersuchungen
über die Tertiärflora der arktischen Zone24) eins der dunkelsten
Probleme entstanden, in welchem sich die Geographie der heutigen
Pflanzen mit der Geologie berührt. Man wusste schon lange, dass
in dem Surturbrand Islands, einer Ablagerung von fossilen Hölzern,
die dem rheinischen Miocen entspricht, die so ausgezeichnet gestalteten
Blattabdrücke des Tulpenbaums (Linodendron) Vorkommen,
einer Magnoliaceenform, die jetzt in denVereinigten Staaten einheimisch
ist und sich bis zum südlichen Kanada verbreitet. Die
Braunkohlen aus den verschiedensten Meridianen zwischen dem
Mackenzie in Nordamerika und Spitzbergen, von Banksland und
Grönland, haben nun ergeben, dass zu der Zeit, als dieselben gebildet
wurden, die Wälder sich durch einen grossen Theil der arktischen
Flora erstreckten, eine Linde sogar noch an dei Kingsbai in
Spitzbergen (78°] gedeihen konnte. Im Allgemeinen sind die Schlüsse
Bewohnbarkeit. — Geologische Acnderung des Klimas. 37
auf das Klima früherer geologischer Perioden, welche man aus der
Vergleichung der fossilen Pflanzen mit denen der Gegenwart gezogen
hat, wenig befriedigend. Denn, wie zum Beispiel das Vorkommen
einer Kiefer auf der Insel Sumatra beweist, hat man in den meisten
Fällen keinen hinreichenden Grund, aus der Aehnlichkeit der Organisation
auf übereinstimmende klimatische Bedingungen zu schliessen:
jede Pflanzenart hat ihre bestimmte klimatische Sphäre, aber nicht
in demselben Maasse die Gattungen und Familien. Jener Tulpenbaum
Islands, den die Palaeontologen als eine besondere Art von
dem nordamerikanischen unterscheiden wollen, konnte möglicher
Weise auch klimatisch sich eigenthümlich verhalten. Aber dieser
Einwurf trifft die Verbreitung der arktischen Wälder in der Tertiärzeit
nicht: denn das Baumleben als solches ist an eine längere Dauer
der Entwickelungszeit und an höhere Wärmegrade gebunden, als sie
das heutige arktische Klima gewährt, und dieses ist eine Folge kosmischer
Bedingungen , eine Wirkung vom Stande der Sonne gegen
die Erdkugel. Dazu kommt, dass unter den zahlreichen Bäumen24),
die jene Wälder bildeten, nicht bloss die Formen und Gattungen
grösstentheils mit denen Nordamerikas identisch sind, sondern auch
einige nicht einmal der Art nach von ihnen sicher unterschieden werden
können (namentlich Sequoia sempervirens und Taxodium disti-
chum). Hier hat also entschieden eine wesentliche Aenderung des
Klimas stattgefunden, die nach Heer’s Vergleichung des grönländischen
Tertiärwaldes (70 °) mit den heutigen Wäldern am Genfer See
einem Breitenunterschiede von wenigstens 230, bei den Linden von
150 entsprechen würde. Aber Grönland hat auch vegetabilische
Ueberreste aus der Periode der Kreide geliefert, die mit denen aus
Deutschland auffallend übereinstimmen. Das sicherste Ergebniss
der Forschungen über die fossile Flora besteht nicht allein darin,
dass die Wärme des Polargebiets seit der Tertiärzeit abgenommen
hat, sondern es ergiebt sich zugleich eine um so .grössere Unabhängigkeit
des Klimas von der geographischen Breite, je mehr man zu
älteren Perioden zurückgeht. In der Zeit der Steinkohlenbildung
scheint das Klima überall fast dasselbe gewesen zu sein: so sehr
stimmen die Arten von Farnen, welche diese Kohle zurtickliessen, in
verschiedenen Breiten überein. In der miocenischen Periode hatte
Mitteleuropa nach Maassgabe der fossilen Flora ein viel wärmeres
Klima als die arktische Zone, wogegen unter den Tropen, in Ostindien,
das Klima damals ähnlich gewesen zu sein scheint wie jetzt.