jenigen Pflanzen, welche sich von der arktischen Zone bis zu uns
verbreiten, verlieren dort stets bedeutend an Grösse. Im arktischen
Amerika ragen nach Richardson s) die verkürzten Zweige der an den
Boden gestreckten Zwergsträucher kaum aus dem Teppich der Erd-
lichenen hervor, und auf solche Pygmaengestaltung zurückgeführt
finde ich sie auch in der grönländischen Pflanzensammlung Vahl’s.
Wenn man die Schilderungen vergleicht, welche Baer von den
Uferlandschaften des weissen Meers entwarf26), wo sich die arktische
und lappländisch-skandinavische Vegetation berühren, so ist es der
Unterschied in der Grösse der Pflanzen, wodurch die Physiognomie
der Natur innerhalb und ausserhalb der Waldgrenze plötzlich und
in auffallendster Weise geändert erscheint. An der Ostküste (65°)
prangten Paeonien, die eine Höhe von mehr als 4 Fuss erreichten,
nebst Aconiten von noch höherem Wuchs, und gegenüber, auf der
Halbinsel Kola (66°), traf der Reisende sogleich die Lichenentundra,
die Abhänge zum Meer trugen nur noch Weidengebüsch und Stauden
von geringer Grösse: was von gemeinsamen Pflanzen übrig blieb,
»hatte sich auffallend verkürzt«. Diese Gegensätze rücken im Grenzgebiete
zuweilen hart an einander, je nachdem die Bodenwärme steigt
oder sinkt oder das unterirdische Eis sich ausdehnt. Am Fluss
Ponoi (67°), an der Ostküste von Kola, war das der Mittagssonne
ausgesetzte, hohe Ufer bewaldet, »man hätte den Abhang für Inländisch
halten können, wenn die Birken ihren vollen Wuchs gehabt
hätten«, hier war die oberste Bodenschicht über io° erwärmt: gegenüber
lagen ausgedehnte Schneemassen, der Boden hatte in Folge
eines Regens doch 50 Wärme erlangt, aber der Abhang erzeugte
nur ein ganz niedriges Gesträuch mit alpinen Stauden.
Die alpinen Regionen der europäischen Gebirge unterscheiden
sich von der arktischen Flora ebenfalls dadurch, dass sie neben
Pflanzen von niedrigem Wuchs auch Gewächse von sehr ansehnlicher
Grösse zulassen. Da aber die Kleinheit des Stengels nur eine Folge
der kurzen Vegetationszeit ist, so kann, wo sich diese einigennaassen
verlängert, auch das Durchschnittsmaass der arktischen Vegetation
bis zu einem gewissen Grade überschritten werden. An der Seeküste
des arktischen Amerikas fand Richardson s) Wiesen in geschützter
Tage, deren Gräser (Calamagrosiis, Elyrnus) eine bedeutende Grösse
erreichen, wenn sie auch nicht so üppig wachsen wie in einigen
Gegenden Fapplands. Scoresby 8) verglich sogar die Vegetation von
Jameson’s Fand (70°) an der Ostküste Grönlands, wo der Graswuchs
einen Fuss Höhe erreichte, stellenweise mit den besten Wiesen
Englands.
Die Faubmoose enthalten unter allen in der arktischen Flora
physiognomisch hervortretenden Gewächsen die kleinsten Formen.
Wenn in unsern Wäldern unter den Temperaturschwankungen des
Winters der Boden sich stellenweise von Schnee entblösst, sieht man
sofort die Moose und Eichenen lebhaft vegetiren, obgleich die Bodenwärme
noch auf dem Gefrierpunkte verharrt, weil das Aufthauen in
den nächsten Umgebungen fortdauert. Solche kryptogamische Gewächse
entwickeln sich also bei einer Temperatur, bei welcher das
vegetative Heben übrigens aus dem Winterschlafe noch nicht erwachen
kann. Sie saugen die Feuchtigkeit mit ihrer ganzen Oberfläche ein,
nicht bloss durch die Wurzeln, wie die Gefässpfianzen. Es giebt nur
wenige höher organisirte Gewächse, die sich ebenfalls in der unmittelbaren
Nähe schmelzenden Eises zu entwickeln vermögen, wie die
Soldanellen, die am Saume der Alpengletscher zu blühen pflegen.
Zuweilen durchbricht ihr Bliithenstiel eine dünne Schneedecke, während
dieselbe zugleich in nächster Nähe der Blume aufthaut, was
wohl nur durch Wärme, welche das Gewächs selbst erzeugt, zu erklären
ist. In anderen Pallen bemerkt man, dass die blühenden
Soldanellen in kleine, den Boden entblössende Gruben von Schnee
eingesenkt erscheinen, eine ähnliche Erscheinung wie die, dass
Steine von geringer Grösse in das Gletschereis einsinken, weil die
Sonne sie stärker erwärmt als das Eis selbst. Es fehlen indessen
Beobachtungen über die Temperatur, welche solche Gewächse an-
nehmen, und es ist wahrscheinlich, dass dieselbe, sei sie nun durch
Insolation oder durch Eigenwärme erzeugt, etwas höher steht als die
des schmelzenden Eises. Eine Messung der niedrigsten Bodenwärme,
bei welcher sich zwei arktische Stauden entwickelten, hat Baer mit-
getheilt27) : dieselbe betrug nur i ° über dem Frostpunkt.
Es ist gewiss, dass jeder Pflanze ein bestimmtes geringstes Maass
von Wärme zukommt, bei dem sie zu vegetiren anfängt, und so gering
die Ansprüche der arktischen Flora in dieser Beziehung sein
mögen, so sind sie doch bei den einzelnen Organisationen nicht dieselben.
Vielleicht können diese Temperaturen nur bei den Zellenpflanzen
auf den tiefsten Werth sinken, bei welchem eine Saftbewegung
möglich ist, auf den des schmelzenden Eises, jedenfalls aber
hat ihre klimatische Sphäre einen weit grösseren Umfang als bei den
Gefässpfianzen. Denn hierauf beruht es, dass viele Arten von Zellen