Nehmen wir an, dass im Gebiete der arktischen Flora die Sommerwärmen
vom Gefrierpunkte bis zu 6° R. anwachsen, so ist der
übereinstimmende Charakter der Vegetation nur dadurch zu erklären,
dass diejenigen Pflanzenformen, in welchen diese Gleichartigkeit
sich ausspricht, entweder von der Verkürzung der Entwicke-
lungsperiode, die in den kälteren Gegenden eintritt, unabhängig
sind, oder dass die Aenderungen der Temperatur dieselben in ihrem
Gedeihen nicht beeinträchtigen. Das Letztere ist aber deshalb zu
verwerfen, weil, wenn die Bodenfeuchtigkeit durch unterirdisches
Eis auf den Gefrierpunkt herabsinkt und also mit der Sommerwärme
von Rensselaer’s Hafen nahe übereinstimmt, die Vegetation sich sofort
wesentlich ändert und fast nur noch aus Kryptogamen besteht.
Von der Bodenfeuchtigkeit aber hängt die Temperatur des Saftes
unmittelbar, von der Luftwärme nur mittelbar ab. Wenn also die
Ausbeute am Smith’s Sund aus arktischen Stauden bestand, die auf
den Tundren Sibiriens nicht mehr fortkommen, so kann die Ursache
nur darin liegen, dass dieselben an der höheren Wärme einer kürzeren
Entwickelungsperiode Genüge finden, die auf dem gefrorenen
Boden, der nur zu unbedeutender Tiefe aufthaut, niemals eintreten
kann. Sie wachsen doch wenigstens während des Juli (20,7) in einer
Luftwärme, die fast dieselbe ist wie die Temperatur der drei Sommermonate
der Melville-Insel (20,3) und der grönländischen Kolonie
Upernivik (20, 7). Nach dieser Auffassung können offenbar nur diejenigen
Bestandtheile der arktischen Pflanzenformationen bei verschiedenen
Sommerwärmen übereinstimmen, die einer ungemeinen
Verkürzung ihrer Entwickelungsperiode fähig sind, und hieraus er-
giebtsich, dass die Mannigfaltigkeit der Flora in demselben Ver-
hältniss abnehmen muss, als der Sommer kälter wird. Dies aber bestätigt
sich allgemein durch den höchst ungleichen Ertrag an verschiedenen
Pflanzenarten, den die sorgfältigsten Sammlungen aus
den einzelnen arktischen Ländern ergeben haben, und der fast überall
in geradem Verhältniss zu der Sommerwärme steht. Mit der Ab-
nähme derselben bleibt eine Organisation nach der anderen zurück,
aber die Pflanzenformen, welche an den kältesten Punkten noch, übrig
bleiben, tragen doch denselben Charakter, sie gruppiren sich zu ähnlichen
Formationen. Die höchste Sommerwärme unter allen arktischen
Ländern, von denen umfassende klimatische Messungen vorliegen,
hat Island : diese Insel hat bereits gegen 450 Gefässpflanzen
geliefertl6) ; hierauf folgen, nach dem Artenreichthum geordnet, der
Reihe nach die Westküste Grönlands (60— 70°) mit 323, das europäische
Samojedenland mit 265, das sibirische Taimyrland mit 124,
Spitzbergen mit 93", Insel Melville mit 60 Arten.
Beobachtungen über den Entwickelungsgang gewisser arktischer
Pflanzen werden uns eine deutliche Vorstellung davon geben, welcher
Verkürzung derselbe fähig ist. Kaum dass die kleinen Polarweiden,
die nur Triebe von Zollgrösse aus dem Boden hervorstrecken,
von den ersten Sonnenstrahlen getroffen werden, so fangen
ihre Kätzchen schon an zu blühen, obgleich eine Safterneuerung aus
dem gefrornen Boden noch Wochen lang unmöglich ist. Die Sonne
thaut nur den Saft im Gewebe ihrer äussersten Triebe und Knospen,
und diese vollenden ihre physiologische Aufgabe, während der grösste
Theil des Organismus, der unterirdische Holzstamm, noch im Winterschlafe
verharrt und vielleicht nur in günstigen Jahren zu vollständigem
Saftumtrieb und entsprechendem Wachsthum gelangt. Andere
Gewächse bringen ihren Samen nicht jedes Jahr zur Reife, wenn der
Sommer zu rasch vorübergeht, aber sie erhalten sich doch vermöge
ihrer dauerhaften Vegetationsorgane.
Die unsymmetrische Vertheilung der Sommerwärme ist eine
Folge von den unregelmässigen Grenzen des Festlands und des Meers
im Polarbecken, sowie von den Bahnen und Stauungen der Meeresströmungen
und ihrer Eisfelder. Wird aber hiedurch die Anordnung
der Pflanzen zwar bis zu einem gewissen Grade bestimmt, so ist doch
noch ein anderes, einflussreiches Moment vorhanden, wodurch die
Wärme, die der Vegetation wirklich zu gute kommt, unter dem
Wechsel äusserer Bedingungen und ungeachtet der ungleichen Dauer
der Vegetationszeit doch in viel höherem Grade übereinstimmend
erhalten wird, als die Beobachtungen über die Luftwärme ei warten
lassen. Denn nicht diese, wie sie im Schatten gemessen wird, son-
die unmittelbare Wirkung der Sonnenstrahlen ist das Maass füi die
klimatische Sphäre der arktischen Gewächse, insofern nicht die
Feuchtip-keit, die aus dem unterirdischen Eise stammt, dieselbe ein-
schränkt. Da alle grösseren Pflanzenformen fehlen, ist die Ebene
oder der flach geneigte Boden wesentlich schattenlos, und die Vegetation
steht daher unter dem höheren Wärmeeinfluss, den die Sonne
ihr gewährt. Wie viel diese Steigerung der Temperatur beträgt, lässt
sich in Ermangelung geeigneter Instrumente nicht genauer angeben,
aber dass sie bedeutend sei, erkennt man an den Messungen Ivane s
mit dem geschwärzten Thermometer,o welches er der Sonne aus