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 Flora,  dass alle übrigen,  Feuchtigkeit,  bereite Nahrungsstoffe,  ange-  
 oemessene physische Beschaffenheit des Erdreichs  dagegen kaum  in  
 Betracht kommen.  Nirgends  fehlt  es  an Wasser,  wo  die  Sonne be-  
 ständig  die Vorräthe  des Winters  zu  schmelzen  hat  und  die  raschen  
 Sprünge  der  Luftwärme  den  Niederschlag  befördern.  Durch  die  
 übermässige Ansammlung  der  Feuchtigkeit  wird  ihr  Gefälle  behindert, 
   so  dass  die höhere Erwärmung  des geneigten Bodens mit  dessen  
 angemessener Bewässerung  zusammenfällt.  Wie  in  dem Waldgebiet, 
  sind übrigens auch in der arktischen Zone die atmosphärischen  
 Niederschläge,  Schnee  oder Regen,  über das  ganze Jahr  veitheilt. 
 Wie  die  Tageslänge  auf  die  arktische  Vegetation  wirke,  ist  
 physiologisch  noch wenig  aufgeklärt.  Beschleunigen  kann  sic  das  
 Wachsthum  nicht,  da  der Eintritt  der Entwickelungsphasen  von  der  
 Steigerung  der Temperatur  abhängt  und die  geringe Wärme  dieselben  
 ^südlicheren  Gegenden  gegenüber  verzögern  muss.  Baer  saete  
 Kressesamen  auf  Nowaja  Semlja  aus  und  sah  die Pflanzen  sich  dreimal  
 so  langsam wie in Petersburg  entwickeln 2°).  Allein  da  das vegetative  
 Leben  auf dem  steten Wechsel  zwischen  der beleuchteten,  die  
 Aufnahme  von  Nahrungsstoffen  aus  der  Luft  bewirkenden  Tagesarbeit  
 und  den  nächtlichen  Ausscheidungen  von  Gasen beruht,  so  
 bleibt  es  unaufgeklärt,  wie  das  veränderte  Maass  dieser  Zeiträume  
 auf die  Organisation  einwirke.  Es  dürfen  besondere  Einrichtungen  
 vorausgesetzt werden,  wodurch  die  arktischen  Pflanzen von  der  veränderlichen  
 Tageslänge  unabhängiger  sind  als  die  Vegetation  in  
 anderen Klimaten. 
 Wollte  man  versuchen,  das  Gebiet  der  arktischen Flora  nach  
 den  entscheidenden  klimatischen Momenten  geographisch  einzuthei-  
 len,  also  nach  der Dauer  der Vegetationszeit  und  nach  der Lage von  
 Schnee und Eis  im  Sommer,  wodurch  die'Wärme  der Pflanzen während  
 dieser Periode bestimmt  wird,  so würde man wegen  des  lokalen  
 Charakters  solcher Einwirkungen  nicht  sowohl  grössere Räume,  als  
 die  einzelnen Vegetationsformationen  zu  unterscheiden haben.  Hici  
 sind  die  topographischen Gegensätze  das Maassgebende,  nicht  die  
 klimatischen.  Auch  die  Exposition und  die  ungleiche  Erwärmungsfähigkeit  
 der Bodenbestandtheile,  Bedingungen,  welche  die Temperatur, 
   die  den  Pflanzen  zu  Gebote  steht,  und  dadurch  zugleich  die  
 Dauer  der  Vegetationszeit  mächtig  beeinflussen,  sind  örtliche E i-   
 scheinungen,  durch  welche  die Formationen  sich  von  einander  absondern. 
   Indessen  ist  der  physische  Charakter  des  unorganischen  
 Substrats,  worin  die Vegetation wurzelt,  doch  auf  grossen,  geographischen  
 Räumen  so  übereinstimmend,  dass  ganze  Erdtheile  oder  
 Inseln  einen  gemeinsamen  Charakter  der  Flora  nicht  verkennen  
 lassen.  Da  das  anstehende  Gestein  am  stärksten  erwärmunpos fähipoist  
 und  dieses  in  der Polarzone  des  amerikanischen Kontinents  von  
 lockeren Erdkrumen wenig  bedeckt  wird,  so  fehlen  hier  die Moostundren, 
   die  auf dem Festlande  von Asien  und Europa vorherrschen,  
 wo  das  in  der  Glacialzeit  durch  die Ablagerung  aus  den Flüssen  erweiterte  
 Tiefland  die  Küste  des  Eismeers  bildet.  Je  dürftiger  die  
 Vegetation  ist,  desto  weniger Humus wird  erzeugt,  und  daher  sind  
 die  felsigen  Inseln  Nowaja  Semlja  und  Spitzbergen  im  Nachtheil  
 gegen  Grönland  und  Island,  wo  die  Vegetationszeit  am  längsten  
 dauert und  daher  die  arktische Flora  verhältnissmässig  am  reichsten  
 entwickelt  ist. 
 Im  grössten Theile  seines Umfangs würde  das  Gebiet  der arktischen  
 Flora  den menschlichen Ansiedelungen  fast  ganz  verschlossen  
 bleiben,  wenn  nicht  die  Erzeugnisse  des  Meers  den Unterhalt gewährleisteten  
 und  die  Wanderungen  der  Samojeden  im  alten,  der  
 Eskimos  im  neuen Kontinent  veranlasst  hätten.  Die abgelegeneren  
 Inseln,  namentlich Spitzbergen,  Nowaja Semlja,  Neusibirien  und das  
 weitläuftige Tiefland  des Archipels  im  arktischen Amerika,  sind  indessen  
 ganz  unbewohnt  geblieben,  gleich  den  Tundren  im  Inneren  
 des Festlandes.  Aber jene  hochnordischen  Inseln  haben  denen,  die  
 sie besuchten,  doch  keineswegs  den  Eindruck  der Oede  und  Verlassenheit  
 zurückgelassen  wie  die  einförmige  Tundra,  wo  die  unorganische  
 Natur keinen Wechsel der Gestaltung bietet und das organische  
 Leben  dem  unterirdischen  Eise  beinahe  zu  erliegen  scheint.  Von  
 Nowaja  Semlja  entwirft  Baer  ein  Bild,  welches  den  Reiz  des  einsamen  
 Polarlandes  anziehend  genug  erscheinen  lässt.  Noch  in  
 späten Jahren,  bemerkt  er21),  gehöre  die Erinnerung  an  den  grossartigen  
 Anblick  dunkler Gebirge  mit  mächtigen  Schneemassen  und  
 an  den Gegensatz  farbenreicher Blumen  der  Ufersäume  zu  den  lebhaftesten  
 Bildern  seines Gedächtnisses,  zu  den schönsten,  möchte  er  
 sagen,  der Eindruck  feierlicher  Stille,  die  auf  dem  Lande herrscht,  
 wenn  die Luft ruht  und  die  Sonne  heiter  scheint,  sei  es  am Mittage  
 oder um Mitternacht,  und  die weder durch  ein  schwirrendes  Insekt  
 noch  durch  die  Bewegung  eines  Grashalms  oder  Gesträuchs  unterbrochen  
 wird.