dass andere schon bei niederen Wärmegraden über dem Gefrierpunkte
zu Grunde gehen, vergleichbar. Bei diesem ungenügenden
Standpunkte der physiologischen Kenntnisse über die Wirkungen
des Frostes sind doch verschiedene Einrichtungen leicht verständlich,
durch welche die arktische Vegetation bis zu einem gewissen Grade
gegen die Strenge des Winters geschützt wird. Die geringe Grösse
aller Erzeugnisse der arktischen I' lora ist in dieser Hinsicht chai ak—
teristisch. Da der Erdboden schon in sehr geringer Tiefe wärmer
bleibt als seine Oberfläche, die durch die Ausstrahlung am stärksten
abgekühlt wird, so ist es für die Temperatur, welche das Gewebe im
Winter zu ertragen hat, von Wichtigkeit, dass die arktischen Pflanzen
überwiegend ihre unterirdischen Organe entwickeln, dass sie
weniger als in anderen Zonen die Hauptaxe in die Luft strecken
und den Austausch mit derselben vielmehr durch rasenförmiges
Wachsthum, also durch zahlreichere Zweigbildungen zu erreichen
streben. Und wie man aus den Wärmegraden schliessen darf, che
in das Innere lappländischer Bäume eingesenkte Thermometer ergaben’
9), wird auch denjenigen Organen, welche der tiefeicn Lufttemperatur
ausgesetzt sind, einige Hülfe dadurch zu Theil, dass die
Wärme in der Richtung der Faser, also von den Wurzeln aus leichter
als im Sinne ihres Querdurchmessers geleitet wird. Das Gewebe
ist geringeren Schwankungen der I emperatur ausgesetzt als die den
Boden berührenden Schichten der Atmosphäre. Weit wichtiger
aber für die Erhaltung des Lebens im Winterschlaf ist der Schutz,
den die vollständige Einhüllung so kleiner Organisationen im Gewande
des Schnees gewährt. Je stärker die Schneelager anwachsen,
desto weniger pflanzt sich die Wirkung der Ausstrahlung in den
Himmelsraum, bei welcher das Quecksilber vielleicht erstarrt, in die
Tiefe derselben fort; die Temperatur, welche die überwinternden
Organe annehmen, wenn sie in ihrem vollen Wachsthum vonden
ersten Schneefällen begraben werden , ändert sich nicht bedeutend,
wie auf unbedecktem Erdreich. Versuche haben ferner gelehrt,
dass die Gefahr des Erfrierens mit der Geschwindigkeit des Auf-
thauens der Säfte erheblich gesteigert wird. Dadurch nun, dass
der Sommer den Schnee allmälig entfernt, treten die Oigane ebenfalls
allmälig aus der Erstarrung hervor, und längere Zeit hindurch
hält sich die Temperatur ihres Gewebes auf dem Gefrierpunkte,
so dass die Säfte mit entsprechender Langsamkeit wieder flüssig
werden.
Die Kleinheit der arktischen Pflanzen ist das vorzüglichste
Mittel, der Dauer der Winterkälte zu begegnen : hierauf beruht die
Möglichkeit, den jährlichen Kreislauf des Wachsthums auf das kürzeste
Zeitmaass einzuschränken. Denn mit dem Umfang der vom
Organismus zu leistenden Arbeit wachsen die Ansprüche an die Zeit,
die zu ihrer Vollendung erforderlich ist. Aber auch dem Raume
nach ist es nothwendig, die grösste Sparsamkeit im Wachsthum ein-
treten zu lassen, weil die Schicht unorganischen Bodens, welche auch
im Sommer allein die angemessene Wärme darbietet, von so geringer
Dicke ist, nach oben begrenzt durch eine Atmosphäre, die zu kalt
bleibt, nach unten durch das schmelzende Eis. Wenn der Schnee
entfernt ist und das unterirdische Eis aufzuthauen anfängt, so wird
die Vegetation um so früher beginnen können, je weniger tief ein
Gewächs seine Wurzeln in den Boden senkt. Man hat beobachtet,
dass, sobald dieselben bei ihrem Wachsthum nach abwärts auf das
Eis treffen, sie anfangen sich wagerecht zu biegen. Baer20) beschreibt
die arktische Varietät von einer Valeriana [V. capitata),
welche durch im Boden kriechende Stammorgane sich von dem
Typus unterscheidet, der in solchen Gegenden Russlands wächst,
wo kein unterirdisches Eis vorhanden ist. Allgemein, bemerkt er,
komme der arktischen Vegetation die Tendenz zu, die unterirdischen
Organe in horizontaler Richtung zu entwickeln. An Masse übertreffen
diese die Luftorgane ausserordentlich. Den im Erdboden
verborgenen Stamm einer Weide [Salix lanata) sah er in Nowaja
Semlja io bis 12 Fuss weit hinkriechen, ohne dasEnde zu erreichen,
wogegen kein einziges der auf dieser Insel einheimischen Gewächse,
selbst Gräser und Sträucher nicht, über eine Spanne hoch sich in die
Luft erheben, viele nur 2 bis 3 Zoll gross werden und eine Grösse
von 6 Zoll schon sehr selten ist. Solche Organe nehmen daher um
so leichter die Temperatur der obersten Bodenschicht an und bleiben
vor der kalten Luft, in der sie doch leben sollen, bewahrt. Denn
fast alle arktischen Pflanzen perenniren durch unterirdische Stämme;
einjährige Gewächse, die im Winter nur den Samen übrig lassen,
fehlen fast ganz. Von allen Körpern, die mit dem Organismus in
Berührung kommen und ihm ihre Temperatur mittheilen, wird eben
die Bodenschicht, in welcher er wurzelt, von den Sonnenstrahlen am
stärksten erwärmt.
Die auf das Aeusserste getriebene Benutzung der gespendeten
Sommerwärme und der Schutz gegen die Kälte sind so sehr die über-
G r i s e b a c h , Vegetation cler Erde. I. 2. Aufl.