In vielen Fällen genügt indessen die Bildung der unterirdischen
Organe mit ihren aufgespeicherten Nährstoffen zum Fortbestehen
des individuellen Lebens, sowie die auf Theilung des Zusammenhangs
zielende Absonderung ihrer Verzweigungen, die Erhaltung
der Art durch vegetative Fortpflanzung zu verbürgen, auch wenn
der Samen nicht zur Reife gelangt oder sogar die herbstlichen Schneefälle
schon eintreten, noch ehe die Bliithen sich entwickelt haben.
Doch legt die Natur auch hier einen hohen Werth darauf, neben der
Fortpflanzung durch Knospen auch die durch den Samen sicher zu
stellen. Möglichst früh treiben daher die Blüthen hervor und, wenn
Baer durch frühzeitigen Schnee die Befruchtung vieler Pflanzen vereitelt
sah, so konnte Middendorff im Taimyrlande dies nicht bestätigen,
und als eine normale Erscheinung ist es jedenfalls nicht
anzusehen.
Die Bildung der Blumen zeichnet sich sowohl in der arktischen
Flora wie in den alpinen Regionen durch Farbenreichthum und oft
auch im Verhältniss zu den übrigen Organen durch ihre Grösse aus.
Middendorff4) fand den mittleren Blüthendurchmesser der Taimyr-
pflanzen mehr als 5 Linien, bei mehreren Arten ein bis anderthalb
Zoll, was bei der Kürze des Stengels um so mehr in die Augen fiel.
Ueber die Kraft und Reinheit der Bliithenfarben bei den alpinen
Pflanzen hat man wohl die Vermuthung geäussert, dass dieselbe mit
der stärkeren Beleuchtung an ihrem hochgelegenen Standorte in
irgend einer Beziehung stehe, ohne dabei zu berücksichtigen, dass
die nämliche Erscheinung sich in dem arktischen Tieflande wiederholt,
wo die Einwirkung des Lichts sich gerade entgegengesetzt verhält
29). Es ist die Aufgabe, auch hier eine Akkommodation an die
äusseren Lebensbedingungen nachzuweisen, und ich glaube, dass
diese Zweckmässigkeit der Bildungen leichter als deren Ursache erkannt
wird, wie dies bei der Organisation der Blüthen gewöhnlich
der Eall ist, wo die Natur die grösste Mannigfaltigkeit des Baus erstrebt
und sie mit den einfachsten Mitteln, mit geringfügigen Abänderungen
des Wachsthums in diesem oder jenem Gewebtheile
herbeiführt. Von der gefärbten Blumenkrone kennen wir keine andere
Bestimmung, als dass sie den zur Befruchtung in den meisten
Fällen nothwendigen Insekten zum Landungsplatz und zur Orienti-
rung bei ihrem Fluge dient, auf dem sie von Bliithe zu Bliithe den
an ihrem Körper haftenden Bliithenstaub übertragen und am weiblichen
Organ abstreifen, indem sie zum Behuf ihrer eigenen Ernährung
die Honigdrüsen im innersten Theil der Blume aufsuchen. Seit
Darwin’s umfassenden Untersuchungen ist die Physiologie sich darüber
klar geworden, von einer wie allgemeinen Bedeutung die unbewusste
Hülfe ist, welche die geflügelten Insekten den Pflanzen zur
Sicherung ihrer Fortpflanzung zu leisten haben, und wie dadurch die
nachtheilige und verhältnissmässig wirkungslose Selbstbefruchtung
in derselben Bliithe vermieden wird. In demselben Verhältniss nun,
wie wegen der zunehmenden Dauer des Winters die Insekten selten
werden und ihre Mitwirkung bei der Befruchtung der Pflanzen daher
ungewisseren Zufällen unterliegt, sehen wir auch die Blumen grösser
und ihre Färbung reicher werden. Oft bemerken wir auch, dass,
wenn die übrigen Stengelglieder in der Blattrosette verkürzt sind,
doch das oberste, welches die Bliithe trägt, sich entwickelt und diese
daher weit aus dem niedrigen Rasen hervorstreckt. Den wenigen
Individuen von Insekten, welche den arktischen und alpinen Gewächsen
noch zu Gebote stehen, werden die Orte, wo sie ihre Nahrung
finden, durch solche Einrichtungen leichter kenntlich, und da-
.mit, ist deren Zweck erreicht. Sie können das Ziel ihres Fluges, wo
sie für sich und zugleich für die Blume eine Aufgabe zu erfüllen haben,
nicht leicht verfehlen und rascher von einem Landungsplatz zum
anderen gelangen. Hierbei kommt noch das allgemeinere Verhältniss
in Betracht, dass die Blüthen an Grösse um so mehr abnehmen,
je zahlreicher sie an derselben Pflanze vereinigt sind. Wenn bei den
Blättern die Zahl mit der Grösse des einzelnen gleichen Schritt hält,
so ist dies begreiflich, weil der Umfang ihrer chemischen Arbeit von
der Masse der zusammenwirkenden Gewebtheile abhängt. Bei den
Blüthen aber ist die Leistungsfähigkeit nicht durch ihre Grösse, am
wenigsten durch die der Blumenkrone, sondern durch den Bau des
weiblichen Organs bestimmt. Allein mit der wachsenden Anzahl
der Blüthen vermehrt sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Insekten
sie auffinden, und wenn auch nur einzelne befruchtet werden, ist die
Samenreife und Fortpflanzung gesichert.
Die Holzgewächse können in der arktischen Flora nur eine geringe
Bedeutung haben, weil die Verholzung des Gewebes die zum
Wachsthum erforderliche Bildungszeit verlängert. Middendorf fand
nur 8 verschiedene Sträucher im Taimyrlande, die Mannigfaltigkeit
ist geringer als in den alpinen Regionen, die Höhe des Wuchses oft
auf die kleinsten Dimensionen zurückgedrängt. Von den Sträuehern
mit periodischer Belaubung sind hier die Weiden- und Rhamnus-
G r i s e b a c h , Vegetation der Erde. I. 2. Aufl. 4