
obwalte,- ist gänzlich unbekannt. Mit der Ausdehnung der
Oberfläche der Hirnwindungen nimmt offenbar die Capacität des
Seelen Vermögens in der Thierwelt zu; aber wir kennen nicht
entfernterweise den Einfluss der grauen Rinde, irr welche- die
unendliche Menge der Fasern deä Stabkranzes zuletzt ausstrahlen.
Welche Veränderung in den Markfasern oder der grauen
Masse, oder dem sie beseelenden Principe vorgeht, wenn eine
Vorstellung eine Impression auf die leicht -veränderliche Materie
des wunderbaren Baues macht, ist gänzlich unbekannt. Wir
wissen nur, dass jede Vprstellung ein in dem Gehirne bleibender
unveräusserlicher Eindruck ist, der in jedem Augenblicke wieder
auftauchen kann, wenn die Thätigkeit der Seele sich ihm zuwendet
, wenn die Aufmerksamkeit auf diesen Eindruck sich spannt,
und dass nur die Unmöglichkeit, vielen Gegenständen zugleich
aufmerksam zu seyn, jenes; Vergessen erzeugt, j Wir müssen uns
alle diese Bilder im latenten Zustande, als unvertilgbare Eindrücke
des Gehirns denken. Eine Hirnverletzung kann einzelne oder
alle verwischen. Man hat nach Hirnverletzungen das Gedächt-
niss für Hauptwörter, Zeitwörter und Lebensabschnitte schwinden
und wiederkehren gesehen. Die Erhebung eines einzigen Bildes
ins aufmerksame Bewusstseyn modificirt die Coexistenz und stört
das Gleichgewicht aller übrigen; daher., wenn die jedesmalige
Stärke der zugleich vorhandenen latenten Vorstellungen bekannt
wäre, die durch eine Vorstellung hervorzurufende verwandte Vorstellung
fast berechnet werden könnte, wenn nur die erste bekannt
ist.
Dass es im Gehirne eine affective Provinz oder ein affectives
Element gehe, bei dessen Anregung jede Vorstellung an affectiver
Stärke schwellen kann, und welches- bei seiner vorzugsweisen
Thätigkeit jede auch hoch so einfache Vorstellung zum
affectiven leidenschaftlichen Zustände macht, und auch im Traume
den Bildern affective Farben und Nüancen giebt, ist im Allgemeinen
zwar wahrscheinlich, lässt sich-aber weder im Allgemeinen
streng beweisen, npch örtlich nächweisen. Noch viel weniger
lässt sich aber beweisen, dass selbst ausser dem leidenschaftlichen
Elemente der Seele auch • die verschiedenen Richtungen der Gei-
stesthätigkeiten und Leidenschaften ihren besondern Sitz än den
Provinzen der Hemisphären haben. Dieser Ansicht von Gall,
auf welche sich die Cranioskopie gründen soll, steht zwar aus
allgemeinen Gründen keine Unmöglichkeit entgegen, aber es giebt
durchaus keine Thatsachen, welche nur entfernter-Weise die
Richtigkeit einer solchen Ansicht im Allgemeinen und die Richtigkeit
der Durchführung im Einzelnen zu erweisen im Stande
wären. , Es / lässt sich keine Provinz des Gehirns nächweisen,
worin das Gedächtniss, die-Einbildungskraft! u. s, w. ihren Sitz
hätten. Immer kann das Gedächtniss durch Verletzung der Hemisphären
an irgend einem Theile ihres Umfanges verloren gehen;
und so ist es mit allen Hauptvermögen, oder Richtungen der
geistigen Thätigkeit. Bedenkt man auf der andern Seite die zum
Theil ganz unpsychologischen, von Gall zusammengebrachten
Urvermögen, so kann inan diese durch nichts zu beweisenden
Willkührlichkeiten ohne Weiteres von dem Forum wissenschaftlicher
Untersuchungen ausschliessen. Ganz interessant ist in
dieser Hinsicht, was Napoleon über • Gall’s System gegen
Las Cases änsserte: „er schreibt gewissen Hervorragungen
Neigungen und Verbrechen zu, die nicht in der Natur vorhanden
sind, die nur aus der Gesellschaft, aus der Convention
hervorgehen.' .Was würde aus dem Organe des Diebstahls
werden, wenn es kein Eigenthum gäbe; aus dem Organe der
Trinksucht, wenn keine geistigen/Getränke, aus. dem Ehrgeiz,'
wenn es keine Gesellschaft gäbe.“ Obgleich Gall kein Organ
der Trinksucht annahm, so ist doch diese Bemerkung in Beziehung
auf die schlechte psychologische Grundlage der GALL’schen
Or gane richtig. Indessen wirft Napoleon’s Bemerkung nur die
Art der Durchführung, nicht das princip des GALL’sehen Systems
um. Was-das Princip betrifft, so ist gegen dessen Möglichkeit
im Allgemeinen ä priori nichts eihzuwenden; aber die Erfahrung
zeigt, dass jene Organologie von Gall' durchaus keine erfahrungs-
mässige Basis hat, und die Geschichte der Kopfverletzungen spricht
sogar gegen die Existenz besondere!' Provinzen des Gehirns für
verschiedene geistige Thätigkeiten. Nicht allein, dass die höheren
und niederen intellectuellen Fähigkeiten, Denken, Vorstellen,
Phantasie, Erinnern, an jeder Stelle der Oberfläche der Hemisphären
durch Verletzung beeinträchtigt werden können; man
hat auch oft genug gesehen, dass die verschiedenen Theile der
Hemisphârèn die Thätigkeit. der anderen bei den intellectuellen
Functionen unterstützen können, und mau hat bei Menschen, wo
die Entfernung zerstörter Parthien der Oberfläche der Hemisphären
nöthig war, öfter keine Aenderung in den moralischen und
intellectuellen Eigenschaften derselben eintreten gesehen. Magendie
hat vollkommen Recht, wenn er die' Craniologie in eine Categorie
mit der Aströlogreund Alchymie stellt.
Was das Verhältniss beider Hemisphären zueinander betrifft,
SO scheint es, dass die Integrität einer Hemisphäre die andere bei
den intellectuellen Functionen ersetzen kann. Wenigstens hat man
in einigen Fällen beständige Zerstörungen in der einen Hemisphäre
ohne'Störung des Geistes schon vorgefunden, und Cruveilhier
(:Lier. 8.) hat den Fall einer Atrophie der ganzen linken Hemisphäre
des grossen Gehirns, in einem. 42jährigen Manne bei ungestörtem
Geistesvermögen mitgetheilt. Die atrophirte linke Hemisphäre
hatte ohngefähr die Hälfte der Grösse der rechten, alle
Theile der ersten sind gleichmässig atrophirt^ daher sind das Crus
eerebri, das Corpus mammillare, der Thalamus opticus, das Corpus
striatum, der Ventrikel dieser Seite kleiner. Das kleine Gehirn
' war auf beiden Seiten ziemlich gleich ausgebildet; die
rechte Hemisphäre ein wenig kleiner. In diesem Falle war die
entgegengesetzte Seite dès Rumpfes von Jugend auf unvollkommen
gelähmt, so dass die Person noch an einem Stocke gehen konnte;
die Glieder dieser Seite waren abgemagert.
Die Commissuren scheinen die Ursache der Einheit der
Wirkungen beider Hemisphären zu seyn. Welcher Antheil
dein Balken hierbei zukomme, ist noch nicht ganz gewiss;
IHü lle r ’s Physiologie. 1. 55