
grausamsten, welche man erdenken kann. Die ungeheure Verwundung
zur Eröffnung des Rückgraths in' einer so grossen Strecke,
um die Wurzeln aller Nerven, die zu den hinteren Extremitäten
gehen, zu durchschneiden, ist an sich schon schnell lebensgefährlich,
mit enormer Blutung verbunden, und der Tod des Thie-
res erfolgt unausbleiblich in kurzer Zeit, ehe man zu überzeugenden
Resultaten gelangt ist. Welch grosses Erstaunen daher
auch Bell’s Theorem wiederum in den Versuchen von M agendie
billig erregte, so blieb doch die gehörige Bestätigung
dieser Versuche aus. Nur Béclard hat, aber auf eine zu oberflächliche
und ungenügende Art, diese wichtige Frage bejahend
entschieden, indem er sagt: Les expériences de Mr. Cu. Bell, celles
de Mr. Magendie et les miennes propres ont clairement démontré,
que la racine postérieure des nerfs spinaux est sensoriale et la
racine antérieure motrice. Elém. d’anat. gêner: Paris 1823. p. 668.
F odera’s Versuche waren mit so widersprechenden Symptomen
begleitet, dass es unbegreiflich ist, wie er seine Versuche für
eine Bestätigung von M agendie’s Beobachtungen ausgeben konnte.
B ellingeri erhielt ganz verschiedene Resultate, und schloss aus
seinen Versuchen, dass die innere graue Substanz des Rückenmarks
der Empfindung, die weissé faserige der Bewegung vorstehe,
dass die vorderen Stränge des Rückenmarks'und die vorderen
Wurzeln der Flexion, die hinteren der Extension der Muskeln
bestimmt seyen. In Deutschland sind diese Versuche mit
Sorgfalt an vielen Thieren von S choeps wiederholt worden. S.
M eckel’s Archiv fü r Mnat. und Physiol. 1827. Allein die Resultate
sind ganz Zweifelhaft und schwankend ausgefallen.
Auch ich hatte schon im Jahre 1824 diesen Versuch ohne Resultat
bei meinem Aufenthalte zu Berlin vprgenommen. Neuerdings
beschäftigt mit Untersuchungen über das Nervensystem,
trieb mich die Begierde nach Wahrheit an, eine Reihe neuer
Versuche nach einem veränderten Plane an Kaninchen anzustellen.
Denn dass die bisherige Art der Versuche trügerisch ist,
beweist der Umstand, dass viele Thiere, vorzüglich Kaninchen,
durch die ersten Handgriffe des Experiments erschreckt und eingeschüchtert,
ohne dass man bedeutende' Verletzungen irgend
einer Art vorgenommen hat, selbst bei den heftigsten Hautreizen,
nicht einmal beim Zerquetschen und Zerschneiden der Haut irgend
eine Schmerzensäusserung von sich geben. Wie kann man
daher in der kurzen Zeit,1 wo ein Thier nach der Oeffnung des
Rückgrats noch lebt, zuverlässig entscheiden, ob das Thier noch
Empfindung hat oder nicht?
Ich wusste, das die geringste Zerrung eines angespannten
Muskelnerven mit einer Nadel Zuckungen in den entsprechenden
Muskeln erregt. Sind nun die hinteren Wurzeln der Spinalnerven
bloss empfindend und nicht bewegend, so müssen sie heim
Zerren mit der Nadel keine Zuckungen, die vorderen Wurzeln
aber beim Zerren wirkliches Zucken bewirken; um die kleinsten
Zuckungen zu bemerken, legte ich die Muskeln der hinteren
Extremitäten bloss. Diese mehrfach wiederholten Experimente
blieben, wenn man gewissenhaft seyn wollte, ohne Resultat, weil
durch die mit der Oeffnung des Rückgrats verbundenen^ Erschütterungen
schon kleine Erzitterungen in den Muskeln eingetreten
waren, welche alles fernere Experimentiren unzuverlässig
machten. Nach so vielen vergeblichen Bemühungen, um das absolute
Resultat zu erhalten, von welchem Herr M agendie spricht,
fing ich an zu. zweifeln. Ich verzweifelte an einem entscheidenden
und zuverlässigen Resultate aller solcher Versuche. Haben
doch D esmoulins und Magendie selbst nur gesagt, dass in dem
einen Faile fast alle Empfindung, in dem andern Fall fast alle Bewegung
aufhöre. . In einem absoluten Resultate kann von einem
halben Erfolge, von keinem fast keine Rede seyn. Ich sagte zu
mir selbst: Das Theorem von Bell ist überaus ingeniös, allein
es ist nicht bewiesen, Magendie hat es auch nicht genügend bewiesen,
und es kann vielleicht bei höheren Thieren nie genügend
bewiesen werden. Dieser Meinung, dass der gehörige Beweis
fehle, war auch E. H. W eber (erster Band seiner vortrefflichen
Ausgabe von H ildebrandt’s Anatomie. Braunschweig 1830.
S. 283.). Zu einem guten physiologischen Experiment gehört, dass
es gleich einem guten physikalischen Versuche an jedem Ort, zu
jeder Zeit, unter denselben Bedingungen dieselben sicheren und
unzweideutigen Phänomene darbiete, dass es sich immer bestätige.,
Diess kann man von den bisherigen Versuchen zum Beweis
des BEti/schen Lehrsatzes nicht sagen. Denn die Verletzung
j die Entkräftung ist so gross, dass die Wahrscheinlichkeit
des Irrthums grösser ist als die Wahrscheinlichkeit des Resultats.
Ein Fehler, an dem so viele physiologische Experimente
leiden. '
Sollten aber nicht Experimente für oder gegen den BELL’s c h e n
Lehrsatz gefunden werden können, welche eben so zuverlässig
sind, als die physiologischen Experimente von H aller, F ontana,
Galvani, A. v. H umboldt? '
Ich kam endlich auf den glücklichen Gedanken, Frösche zu
den fraglichen Versuchen nach meiner eben erwähnten Methode
anzuwenden, Thiere, welche ein sehr zähes Leben haben, die
Oeffnung des Rückgrats lange überleben, deren Nerven die längste
Zeit sensibel bleiben, und bei denen die dicken Wurzeln der
Nerven für die hinteren Extremitäten eine sehr grosse Strecke
im Kanäle des Rückgrats getrennt verlaufen, ehe sie sich vereinigen.
Diese Versuche sind mit dem glänzendsten Erfolge gekrönt
worden; sie sind so leicht, so sicher, so entscheidend, dass
sjch jeder nunmehr schnell von einer der allerwichtigsten Wahrheiten
der Physiologie überzeugen kann. Die Phänomene sind so
constant und überraschend, dass diese Versuche an Einfachheit
und Gewissheit des Erfolgs, dem besten physikalischen Experi-
mentum crucis an die Seite treten dürfen.
. . Zur Oeffnung des Rückgrats bediene ich mich einer an der
Seite und an der Spitze scharf schneidenden Knochenzange.
Diese Operation ist in einigen Minuten ohne alle Verletzung des
Rückenmarks" vollbracht. Die Frösche sind darauf ganz munter
und hüpfen wie vorher herum. Man sicht nach Oeffnung des
Rückgrats und der Häute sogleich die dicken hinteren Wur