
terstamme abgestossenen Reime erweist, so kann aacb keine Veränderung
des Baues des Gehirns das Wesen der Seele selbst verändern,
sondern ihre Thätigkeit nur zu kranken Actionen zwingen.
Nur die Thätigkeit der Seele hängt von der Integrität des
Faserbaues und der Mischung des Gehirnes ah. Die Art der
Thätigkeit, und die Art des Baues und Gehirnzustandes laufen
immer parallel; der letztere bestimmt immer die erstere, aber
das Wesen der Seele, ihre latente Kraft, so weit, sie sich nicht
äussern muss, -scheint durch keine Hirnveränderung bestimmbar.
Hält man sich hieran, so sind alle weiteren Erörterungen über
die letzte-Ursache der Geisteskrankheiten, über den Antheil des
Gehirns und der Seele an denselben abgeschnitten, und der Arzt
hat bei allen abnormen Geisteszuständen - immer und zuerst nur
den Zustand der materiellen Veränderung, welche die Seele zu
kranken: Actionen zwingt, oder ihre -Thätigkeit ünterdrückt, im
Auge zu behalten. Wir kennen aus Berichten zwei Fälle von
angebornem Blödsinn mit einem so niedrigen Schädel, dass die
Abbildungen an den Zustand des Schädels bei der Hemicepbalie
erinnern, obgleich das. Cranium vollständig vorhanden ist. Es sind
die zwei in der Colonie Kiwitsblott, eine Meile von Bromberg, lebenden
Söhne derWittwe Sohn, der eine von 17, |j|er andere von 10
Jahren. Beidé sind bei dem besten Wohlseyn so stupid, dass sie
sich des Weges nach Hause auch bei einer geringen Entfernung
nicht erinnern,„dass sie sich nicht ihre Beinkleider öffnen können,
obgleich sie mit allen Bewegungskräften' eines gesunden
Menschen ausgerüstet sind, und auf alle Theile ihres Körpers
den Einfluss des Willens besitzen, den sie, obgleich lenksam und
ohne Bosheit, nur zum Essen und Trinken, und zum Zerstören von
Allem, was ihnen in die Hände fällt, benutzen können. Auch in
diesen denkwürdigen Fällen dürfen wir keine angeborne Krankheit
der Seele, keinen ursprünglichen Mangel des. psychischen
Principes voraussetzen; gewiss war die Anlage zu der höchsten
Vollkpmmenheit in dem latenten Zustande des psychischen Principes
im Reime verhanden;" aber keine Entwickelung der Fähigkeiten
der höheren Seelenäusserungen war bei der unvollkommenen
Ausbildung des Gehirns möglich, gleich wie die bei dem
gesunden Menschen eintretende plötzliche . Veränderung des Hirnzustandes
augenblicklich auch die Aeusserungen der Seele krankhaft
oder ihre Kraft sogar latent macht, die nach der Wegnahme
des Druckes auf das Gehirn oft mit der ganzen Klarheit des
Bewüsstseyns wiederkehrt. Da die Materie durch die Thätigkeit
immer zugleich verändert wird (siehe oben p. 52.), so versteht
es sich von selbst, dass abnorm angestrengte Thätigkeit dev Seele,
und eine durch eingegangene Lebensverhältnisse bedingte einseitige
Richtung der Geistesthätigkeit, oder die hervorgerufene
Heftigkeit der Seelenzustände auch wieder auf die Organisation
des Seelenorgänes zurückwirken muss. Wie sehr auch die Entfernung
dieser Ursachen in den Augen des Arztes wichtig ist;
der Zustand der Organe bleibt hier wie überall das Object desselben;
und die Sündhaftigkeit, womit schwärmerische Aerzte
sich so viel zu schaffen machen, ist1 nicht' das Wesen der Gei-
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steskrankheit,: sondern kan'n nur mit in den grossen Kreis ihrer
veranlassenden Ursachen gehören.
Ob das Lebensprinçip, von welchem im Keime die ganze
Organisation ausgeht, und welches auch das Organ für das Wirken
des psychischen Principes erzeugt, von dem letztem wesentlich
verschieden sey, oder ob die Thätigkeit der Seele nur eine
Species der. Wirkungen des Lebensprincipes sey, ist' eine in
der empirischen Physiologie ganz unlösbare Frage. Wir wissen,
dass das Lebensprinçip ohne Seelenäusserungen fortwirken kann ;
denn das Lebensprinçip erhält auch die hirn- und rückenmark-
lose Missgeburt noch bis zur Geburt lebend. Daraus kann man
nicht schliessen, dass das psychische Princip von dem Lebens-
princip dem Wesen nach verschieden sev; denn wir haben schon
gesehen, dass es einen latenten ■ Zustand des psychischen Principes
in einem belebten Körper auch ausser dem Gehirne giebt.
Man kann aber eben so wenig daraus schliessen, dass das psychische
Leben nur eine Species der Wirkungen des Lebensprincipes sey;
wir sehen nur, was auch die Schöpfung des ganzen Embryos vor
.der Entwickelung der Seelenfähigkeiten beweist; dass die Thätigkeit
der Seele zur Aeusserung des Lebensprincipes nicht noth-
wendig ist; dagegen wissen wir eben-so bestimmt, dass die Thü-,
tigkeit der Seele ohne die Mitwirkung des Lebensprincipes in
einem thierischen Körper nicht möglich ist; denn das Lebensprin-
cip erschafft und erhält die zur Thätigkeit der Seele nothwendiga
Organisation des Gehirns.
Für die Ansicht, dass das psychische Leben nur eine Manifestation
des Lebensprincipes der thierischen Körper überhaupt
sey, kann man anführen, dass das.psychische Princip nicht bloss
in einer Classe von thierischen Wesen, im Menschen, dass es
vielmehr bis zu den' niedersten Thieren erscheint. Denn alles
Thierische ist beseelt,- was. der Sinneserscheinung auch ausser
den Sinnesempfindungen bewusst ist, was vorstellt, was Begehrungen
und Vorstellungen von ihrem Objecte und ihrer Befriedigung
hat, was durch Vorstellungen und Begehrungen zu Willensactionen
bestimmt wird, In diesem Umfange kommen psychische
Erscheinungen bis zu den niedersten Thieren vor; bei
den höheren Thieren treten, zumal auch Leidenschaften auf. Auf
der andern Seite lässt sich für die Unabhängigkeit des psychischen
Principes von dem Lebensprincipe- anführen, dass eine
ganze Classe der organischen belebten Wesen, die Pflanzen, aller
psychischen Erscheinungen entbehren. Indessen lässt sich dieser
Einwurf wieder durch die Annahme eines/latenten Zustandes der
psychischen Seite des Lebensprincipes aufheben, und wo eine
Hypothese bloss insofern Haltung hat, als sich eine grosse Anzahl
der Thatsachen 'daraus erklären lassen, wird dieselbe durch eine
andere, welche die Thatsachen eben so erklärt, neutralisirt.
Beide'Principien stimmen in , ihren Wirkungen darin überein,
dass ihre Erscheinungen das Vernünftige seyn*. können ; aber das
Vernünftige des psychischen Lebens ist blosses Bewusstseyn des
Vernünftigen, ohne alle schaffende Einwirkung auf die Organisation,
auf die Materie; das Vernünftige der ^Thätigkeit des Le-
MüUer’s Physiologie. I,