
714 III. Buch. Nervcnphysik. III. Ahschn. Mechanik d. Ncrvcnprincips.
Zeitschrift fü r Physik und cerwandte Wissewchajten. II. Bd. 3. Hft.
236Eine sehr merkwürdige Vermischung oder Identification der
Empfindungen findet in einem einzigen Falle hei den Empfindungen
der gleichnamigen Nerven der rechten und linken Seite,
nämlich der beiden N. optici statt. Diess ist eine, im ganzen
Organismus sonst nicht .vorkommende Erscheinung, welche auch
nur in besonderen Verhältnissen der Strnctur ihre Ursache haben
kann. Die Empfindungen der gleichnamigen Gefühlsnerven
der rechten und linken Seite werden im Bewusstseyn sonst nie
an einem Ort empfunden. Was die rechte Hand empfindet; wird
nicht an demselben Orte empfunden, wie die Empfindungen der
linken Hand, sondern es werden die Eindrücke beiderlei Nerven
im Bewusstseyn nebeneinander, nicht ineinander gesetzt. Bei
den Augen oder den Sehnerven tritt aber die Anomalie ein,
dass gewisse Fasern des einen Sehnerven, mit gewissen Fasern
des andern Sehnerven nur eine einzige gemeinsame Empfindung
haben, wodurch das einfache Sehen mit zwei Au-
„en bedingt wird. Es haben zwar Einige behauptet, dass wir
wechselsweise immer nur mit einem Auge sahen. Wer aber an
der gleichzeitigen Thätigkeit beider Augen zweifeln kann, hat
nie die so häufig in demselben Gesichtsfelde vorkommenden Doppelbilder
der Gegenstände beobachtet, wovon das eine dem einen, das
andere dem andern Auge angehört. Um sich davon zu überzeugen
betrachte man zwei in einer geraden Linie in einiger Entfernung
hintereinander stehende Körper, z.B., Stecknadeln oder die
hintereinander gehaltenen Finger. Fixirt man nun den nähern
Fin°er indem beide Augenachsen darin Zusammenkommen | so
sieht man den fernem Finger doppelt, fixirt man den fernem
Finder so sieht man den nähern doppelt; durch Schliessén des
einen Auges kann man sich bald überzeugen, dass eines der Doppelbilder
dem einen, das andere dem andern Auge angehört.
Dass es in beiden Augen gewisse Theile der Markhäüte oder
des Sehnerven giebt, welche identische Empfindungen hahen,
und andere, welche nicht identische Empfindungen haben, kann
man auch durch einen sogenannten subjectiven Versuch beweisen
nämlich durch Druck auf gewisse seitliche Stellen des geschlossenen,
Auges im Dunkeln, und die dureji Druck der Markhaut
entstehenden Lichtbilder. Diese Druckbilder erscheinen
immer umgekehrt. Drückt man das Auge unten, so erscheint
das Druckbild oben im Sehfelde des Auges, drückt man oben,
so erscheint es unten; drückt man an der rechten Seite, so erscheint
es links, und umgekehrt. Wenn man nun die linke Seite
beider Aimen drückt, so entsteht statt zwei Druckbilder nur
eins dagegen man beim Druck des einen Auges auf der linken,
dös andern auf der rechten Seite zwei einander entgegengesetzte
Figuren sieht. Drückt man beide Augen oben, so erscheint nur
ein Druckbild unten, drückt man beide unten, sö erscheint nur
ein Druckbild oben. Drückt man aber das eine Auge oben, das
andere unten, so erscheinen zwei Bilder, das eine oben, das
andere unten. Bei diesen Versuchen muss man nicht an dem vor-
2. Mechanik d. Empfindungsnerven. Vermischung d. Empfindungen. 715
dern Umfange des Auges drücken, weil dort keine Markhaut sich
befindet, sondern man muss, das Auge in der Tiefe drücken.
Diese Versuche beweisen schon die Identität der Empfindungen
in gewissen Stellen der Netzhäute beider Augen, die Differenz
der Empfindungen an anderen Stellen; beide Markhäute müssen
'in der Empfindung gleichsam als ineinander liegend gedacht werden,
so dass allePunkte der Markhäute der beiden Augen, welche (das Auge
als Kugel gedacht) in gleichen Länge-und
Breitegraden liegen, für die Empfindung
identisch sind, alle anderen Punkte
der beiden Markhäute sich gegeneinander
als different verhalten, gerade
so wie verschiedene Punkte der Markhaut
eines einzigen Auges. Noch viel
bestimmter lässt sich diess durch sogenannte
objective Versuche zeigen.
In bestehender Figur sollen die
Augen mit ihren Achsen den Puukt
a fixiren; die Netzhäute seyen in 10
Maasstheile getheilt, dann wird der
Punkt a in r dem Auge A bei 5, und'
eben so in dem Auge B erscheinen;
der Punkt h erscheint in beiden Augen gleichweit von 5 nach
links entfernt bei 4. Also nimmt das Bild in beiden Augen die
Maasstheile 4—5 ein; es wird einfach gesehen; diese Stellen sind
idejitisch; denn 1 ist mit 1, 2 mit 2, 3 mit 3, 4 mit 4, 5 mit
5 identisch. Fällt aber das Bild nicht auf solche identische Stellen,
so erscheint es doppelt, z. B.
In der zweiten Figur sollen die beiden
Augen so gestellt seyn, dass sieden
Punkt a fixiren; ist diess ein Object, so
wird es einfach gesehen. Alles, was vor
oder hinter a liegt, erscheint dagegen in
Doppelbildern. Z. B.A hinter dem Fixä-
tionspunkt a, wirft das Bild in dem Auge
A auf 6 , in dem Äuge B auf 4, erscheint
doppelt; von zwei hintereinander gehaltenen
Fingern erscheint der hintere
doppelt, wenn der vordere fixirt wird.
Die Entfernung der Doppelbilder beträgt
die Distanz von 6—4 imVerhält-
niss zum ganzen Sehfeld 1—10, und der
Ort ist 6 und 4. Der Punkt c in beistehender
Figur, welcher vor dem Fixationspunkt
a liegt, wirft dagegen sein
6\
Bild in A auf 4, in B auf 6 ; er wird doppelt gesehen, denn 4
ist nicht mit 6 , sondern 4 mit 4, und 6 mit 6 identisch. So erscheint
von zwei hinter einander gehaltenen Fingern der vordere
doppelt, sobald der hintere fixirt wird. Man sieht also
deutlich, dass beide Sphären der Augen, auf das feinste in Breiten
und Längengrade, Minuten, Secunden eingetheilt, in allen