DAS ORAKEL ZU DELPHI.
D e r Tempel des Apollon stand am obern Abhänge in der
Mitte der Biegung, welche das Gebirge macht, wo jetzt KastrI
liegt; in ihm war das Orakel, was sich in einer Art tiefer
Höhle befand, in deren Mitte ein unterirdisches Luftloch hinabging,
aus welchem der prophetische Dunst heraufstieg.- Die
Mythe von seiner Auffindung ist bekannt. Ueber diesem
Dunstloch stand der goldne Dreifuss, der aber so stark mit
Lorbeerzweigen und Kränzen umwunden war, dass man die
Oeffnung nicht sali; es geschah, damit der Dunst sich nicht
rings herum verbreite, sonst hätten vielleicht die das Orakel
Befragenden auch angefangen zu wahrsagen. Wasser von der
oberhalb des Tempels befindlichen Quelle Kassötis (jetzt Krene)
war in das Allerheiligste geführt, und wenn der Jüngling aus
einem nahen Haine Lorbeerzweige geholt hatte, schöpfte er
auch aus der Kastälischen Quelle Wasser zur Füllung der in
der Vorhalle des Tempels befindlichen Gefässe. Die Pythia
erschien bleich und verstört, trank von dem Wasser der Kas-
sotis und kauete Lorbeer; mit Drohungen und oft auch mit
Gewalt zwangen sie die Priester, sich auf den Dreifuss zu
setzen, auf welchem sie nicht selten festgehalten werden
musste, bis sie in Raserei und unter Geheul unverständliche
Worte ausstiess, welche die Priester sorgfältig aufzeichneten,
ordneten und dem Fragenden schriftlich einhändigten, in frühester
Zeit in Versen, bis allgemeine Klage einlief, dass der
Gott der Dichtkunst die schlechtesten Verse machte, dann
erst antwortete er in Prosa, aber noch stets so dunkel, dass
die Auslegung seiner Aussprüche häufig Elend, lo d und Verderben
über ganze Länder und Völker brachte. Diese Leitung
der Geschicke der Menschen, welcher sich das Orakel
bemächtigt hatte, war das Unheilbringende, denn das Erpressen
von Opfern, Geld und Geschenken, da der goldgelockte
Gott nicht umsonst antwortete, machte die Befrager nur ärmer.
Unter Constantin dem Grossen hörte dieses Orakel so
wie die meisten übrigen auf.
In den frühesten Zeiten gab es zu Delphi nur Eine Pythia,
als aber das Orakelsprechen gut ging, musste man drei
anstellen. Die Pythia wurde anfänglich jung zum Dienst gewählt,
als aber ein Thessalier die wahrsagende Jungfrau heimlich
mit sich genommen hatte, um das Orakel stets in der
Nähe zu haben, so wurden dann nur alte Mädchen, die mehr
als 50 Jahre zählen mussten, dazu genommen. Die Pythia
wählte man aus dem niedrigsten Stande der Bewohner von
Delphi, arm und ohne Erziehung, aber was die Hauptsache
war, sie musste etwas wahnsinnig sein oder doch staxke Anlage
dazu haben. Die jetzigen Bewohner von KastrI meinten:
die Pythia sei die grösste Lügnerinn des Landes gewesen, und
sagten' mit Zufriedenheit, dass sie jetzt keine verrückte Jungfrau
mehr im Dorfe hätten. Ich habe auch die Meinungen
der jetzigen Bewohner angeführt, um anzugeben, was die Sage
noch bis jetzt erhalten hat. Der Tempel des Apollon war,
selbst nach dem Werthe jetziger Zeiten gerechnet, ungeheuer
reich; dort waren vom Lybischen König Krösus geschenkt:
117 Ziegel von Gold, eine Handbreit dick, 6mai so lang,
3mal so breit, deren jeder 2 Talente wog; pin goldner Löwe,
10 Talente schwer; ein grösser goldner Dreifuss, auf weichem
die Pythia sass; die Statue des Apollo aus Gold (vom
Nero geraubt). Ferner ein Krater von Gold, über 8 Talente
schwer, einer von Silber, der 600 Amphoren fasste, in welchem
der Wein am Feste der Theophanien gemischt wurde
u. s. w. Trotz der frühem Ausraubungen des Tempels waren
zu Plinius Zeiten noch über 3000 Statuen übrig. Strabo