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fortgeführt, bis sie durch eine neue Bewegungsintention, die
durch eine gelesene Note erfordert wird, abgebrochen wird. Die
Gleichzeitigkeit der verschiedensten Bewegungen hat, um es nochmals
zu sagen, gar keine Schwierigkeit; denn es ist nicht schwerer,
Kehlkopfs- und Fingermuskeln zugleich zu bewegen, als mehrere
Armmuskeln zugleich zu bewegen; aber die Conception dieser
Bewegungen aus verschiedenen Reihen von Vorstellungen
kann, wie es scheint, nur hinter einander, wenn auch mit Blitzesschnelligkeit,
geschehen. Wir kommen jetzt auf das früher erwähnte
Thema zurück. Wir gehen in Gedanken vertieft durch
viele verschlungene Strassen zu einem Freunde; unterwegs sind
wir so vertieft, dass wir auf nichts achten, das Grüssen vergessen
oder den Grüssenden nicht bemerken, und zuletzt treffen wir
an der bewussten Stelle ein, ohne dass-wir wissen, wie wir, innerlich
leidenschaftlich bewegt, oder in Gedanken vertieft, dahin
gekommen sind. Die willkührliche Ortsbewegung allein, diese
beständig angeübte Abwechselung von Beugungen und Strek-
kun gen kann, da sie eine einfache rhythmische Wiederholung
zweier Bewegungen-ist, einmal eingeleitet, so gut wie eine einzige
Bewegung anhaltend neben einem beständigen Gedankenwechsel
fortgesetzt werden. Schwieriger ist einzusehen, wie wir uns
durch die viel verschlungenen Strassen orientiren und in gleicher
Zeit einem innern Gedanken Wechsel folgen. Diess lässt sich
jedoch sehr gut aus kleinen Absprüngen von dem einen zum andern
Thema erklären. Die Gesetze der Ideenassociation kommen
hierbei vielfach in Betracht. Sind zwei Reihen von Vorstellungen
beide 'von gleich geringem Interesse, so kann man
leicht von der einen zur andern wechselseitig übergehen oder
durch eine dritte Vorstellung ganz davon abkommen. Ist
aber eine Reihe von Vorstellungen im Sensorium herrschend,
z. B. in einem leidenschaftlichen Zustande, so kann zwar jede
neue, durch die Sinne angeregte Vorstellung uns auf Augenblicke
von der herrschenden Reihe abbringen; aber das Sensorium kehrt
nach jeder Unterbrechung doch immer leichter zu dem Grund-
theina zurück, als es zu entfernten Associationen abgeführt wird.
2) Association der Bewegungen und Vorstellungen.
Die Schnelligkeit und Reihenfolge der Bewegungen wird
durch die Häufigkeit gefördert. Diess ist, was wir Uebung nennen.
Wer nicht geübt ist, kann nicht mit grosser Schnelligkeit
in beständigem Wechsel dieselbe Bewegung abbrechen und wieder
erneuern, öder zusammengesetzte Bewegungen regelrecht vollführen.
Aus der Thatsache der Uebung folgt, dass, je häufiger
das Nervenprincip in gewissen Fasern in Schwingung gesetzt wird,
um so leichter diese Schwingung oder Strömung wird. Nach einer
gewissen Zeit wird zwar auch ein geübter Arm müde, obgleich
jetzt die Bewegung des Nervenprincips oft wiederholt worden,
weil nämlich durch die Action für den Augenblick eine materielle
Veränderung in den Nerven erfolgt. Aber die so angestrengten
Glieder ersetzen auch vor den anderen ihre Verluste
wieder, und die erholten Theile sind zufolge der stattgefundenen
häufigen Strömungen oder Schwingungen des Nervenprincips in
I „ewissen Fasern nun viel geneigter zu denselben Bewegungen.
H jy;e Gesetze der Association der Bewegungen sind schon so
[oft erläutert worden, dass sie sehr allgemein auch in den ärzt-
I liehen Schriften bekannt sind. D arw.n hat sich ^sonders damit
beschäftigt. D arwin, Zoononue. Leipz 1/95. I B d Vergl.
I reil Fieberlehre. IV. p. 609. Reil, von der Lebenskraft. R eil s I Archiv I. B rak ms Versuch über die Lebenskraft. Hannover 1/95.
[Die Association kömmt hier in doppelter Weise in Betracht,
j a. Als Association von Bewegungen zu Bewegungen. Man
! hat früher häufig die Mitbewegungen und die Association der
willkührlichen Bewegungen verwechselt. Das Wesentliche der
ÏMitbewegungen, die wir Bd. I. p. 662 Bd. II. p. 8o. erläutert haben
liegt darin, dass die willkührliche Intention auf einen Ner
ven’ die unwillkürliche auf einen andern hervorruft. Es ist
nicht möglich, das eine Auge willkührlieh zu erheben, ohne dass
idas andere derselben Bewegung folgt; es, ist nicht möglich, das
tAu«e nach innen zu stellen, ohne dass die Iris enger wird. Ger
|Un®eübte vermag nicht einen einzelnen Finger allein zu strecken.
Diese Erscheinungen sind nicht angeübt, sie sind angeboren.
[Die Mitbewegung ist bei dem Ungeübten am grössten, und der
Zwedk der Uebung und Erziehung der Muskelbewegungen ist
zum Theil, das Nervenprincip auf einzelne Gruppen von Fasern
lisolireri zu lernen. Das Resultat der Uebung ist daher in Hinsicht
der Mitbewegungen Aufhebung der Tendenz zur Mitbewe-
S„un« Bei dén Associationen der willkührlichen Bewegungen ist
fes ganz anders. Hier werden durch Uebung Muskeln zur schnel- I len Folge oder Gleichzeitigkeit der Bewegung ausgebildet, die an
sich noch wenig Neigung zu dieser Association haben. Das Re-
! sultat der Uebung bei der Association der Bewegungen ist daher
I'gerade das umgekehrte, als bei den Mitbewegungen. Durch Ue-
1 bung verlieren die Muskeln die angeborne Tendenz zur Mitbe-
^ wegung; durch Uebung wird die willkührliche Mitbewegung
I mehrerer Muskeln erleichtert. D arwin und Reil Raben diese
| ganz verschiedenen Zustände des Nervensystems hier und da verwechselt.
Das Gesetz, welches D arwin p. 49. ausspricht, ist:
salie thierische Bewegungen, welche oft zu gleicher Zeit oder in
f einer unmittelbaren" Folge erregt sind, werden so mit einander
verbunden, dass, wenn die eine wieder hervorgebracht wird, die
| anderen eine Neigung haben, diese zu begleiten oder ihr zu folr
!.gen. Im Allgemeinen kann man diess zugebeu, obgleich es nicht
rganz richtig ausgedrückt ist; aber die von D arwin und Reil zui
\ Erläuterung dieses Gesetzes gewählten Beispiele gehören zum
j Theil unter das Gesetz der Mitbewegungen. Ueberdiess drückt
: das DARWiN’sche Gesetz die Thatsachen nicht ganz richtig aus
1 Wäre es wirklich sö, so würden wir durch die Erziehung und
I Uehung ungeschickter. Mithewegungen würden oft liindeilich
werden, die die Uebung uns zum Hinderniss. anerzogen, statt
: dass wir uns durch Uebung der angebornen Tendenz zur Mitbewegung
entäussern. Das von D arwin und R eil gewählte Bei