
dem Spiel eines ganzen Orchesters sind wir selten so passiv, dass
wir alle Töne, die gleichzeitig gehört werden, bloss nach der
Stärke derselben lebhaft empfinden. Im Gegentheil, wir sind im
Stande, das Spiel eines schwachem Instrumentes durch die stärkeren
Töne der anderen zu verfolgen, wobei wir diese unbeachtet
lassen. Sagen uns zwei Personen verschiedenes in beide Ohren,
so können wir den NVorten des Einen mit Aufmerksamkeit
folgen, während wir die des Andern überhören. Was bei einem
und demselben Sinnesorgane stattfindet, kann auch bei gleichzeitiger
Affection verschiedener Sinnesorgane geschehen. Je nach
der Richtung der Intentio übersehen wir etwas, während wir
dabei etwas lebhaft hören, und umgekehrt; denn die Intention
kann nur ein Object auf einmal lebhaft zur Anschauung bringen.
Diese Zergliederung der Sinnesempfindungen durch die Aufmerksamkeit
geschieht häufig ganz unwillkührlich, ohne alle Absicht
nach den Gesetzen der Assöciätion der Vorstellungen. Allein
wir können die Intention auch willkührlich bei den Sinnesempfindungen
wirken lassen. Sagen uns zwei Personen zugleich
etwas ins Öhr, so hängt es ceteris paribus von unserm Willen ab,
welche von beiden wir verstehen. Es liegt in unserer Wahl,
zwischen gleichzeitig stattfindenden Gesichtsempfindungen,;?Gehör-
empfindungeri, Geschmacksempfindungen u. s. w., eine derselben
allein lebhaft zu empfinden, Während die anderen so dunkle Eindrücke
hervorbringen, dass sie nicht zu unserm Bewusstseyii
kommen. Und dasselbe findet1 wieder bei einer einzigen Sinnesempfindung
statt; wir können sie willkührlich zergliedern} wir
können willkührlich das Spiel der Geige unter dem ganzen Orchester
lebhafter empfinden, willkührlich die einzelnen durch das
Ganze durchstrebenden Theilfe der architektonischen Hose lebhafter
anschauen. Kurz der Wille wirkt hier eben s so stark, wie
bei den Bewegungsnerven. Der einzige Unterschied ist nur, dass
der Wille bei den Bewegungen die ruhige Nervenfaser excitiren
kann, während bei der Mitwirkung des Willens in den Sinneserscheinungen
die Empfindung durch die wiilkührliche Intention
nur lebhafter wird.
Die wiilkührliche Intention ist auch nicht bloss auf Bewegungsnerven
und Empfindungsnerveh beschränkt; sie wirkt auch
bei den Seelenactionen des Sensoriums. Unser Vörstellungsver-
mögen ist zwar ohne alle wiilkührliche Direktion thätig; die
Phantasie producirt, wenn die änderen Seelenäusserungen ruhen,
unaufhörlich Gestalten, Bilder farblos, lichtlos, weil sie ohne Empfindung
sind; ja diese Bilder werden durch Wechselwirkung mit
den Centralorganen der Sinnesorgane selbst leuchtend und farbig.
Denn wer sich aufmerksam beobachtet, sieht aus derix Traum
erwachend, obgleich wach, zuweilen doch die Traumbilder noch
wirklich blasslicht mit offenen Äugen, wie ich gär oft mich überzeugt
habe'und schön S pinoza einmal an sich beobachtete. Siehe
J. Mueller über die phantastischen *Gesichtserscheinungen. Cublenz
1826. Sind wir auch nicht im Stande während des Wachens
willkührlich leuchtende Bilder bei geschlossenen ’ ’Aiigen Zu
produciren, so vermögen wir doch 'willkührlich unsere Vorstellnnven
zu dirigiren. Kurz wir sehen, dass d.e wiilkührliche In-
L n vom Sensorium aus nach allen Richtungen auf motorische
Nerven sensorielle, Nerven und die Seelenactionen wirkt; die
wiilkührliche Hervorrufung von Actionen ist eben nichts anders,
als die spontane, mit Bewusstseyn verbundene Intention des Nervenprincips
im Gehirn auf verschiedene Apparate, von deren Natur
es abhängt, ob das willkührlich Hervorgerufene eine Bewegung
oder eine lebhaftere Empfindung, oder eine Vorstellung
ist ^ ’Man kann sich diese wiilkührliche Intention vorläufig als
eine spontane, mit Bewusstseyn hervorgerufene Strömung oder
Schwingung des Nervenprincips nach jenen Apparaten vorstellen.
Man kann, wie in Hinsicht der Freiheit des Willens überhaupt
so in Hinsicht der willkührlichen Bewegung auf den
Gedanken kommen, dass es gar keine freie Willkuhr hierbei gäbe,
und das, was man so nennt, nur eine Verkettung von Kothwen-
digkeiten sey, die kein anderes Endresultat, als das Gewollte haben
können. Bald ist es, könnte man sagen, eine Empfindung,
■ bald ein leidenschaftlicher Zustand, bald eine Vorstellung und
’ die Association mehrerer Vorstellungen, die uns Bewegungen
so nothwendig ausführen lassen, dass sie gleichsam nur das
letzte Resultat dieser Verkettung und so unvermeidlich sind,
wde der Schluss aus den Prämissen folgt. Die Leidenschaft
kann eine Bewegung bewirken; die Nöthigung zu dieser Bewegung
kann, da. die Leidenschaft die Seele ganz occupirt, den höchsten
Grad erreicht haben, und wenn die Vernunft sie nun. widerrath
und unterbleiben lässt, so liegt es doch wieder, kann man sagen,
in der Verkettung dieser Facta, dass die Bewegung unterbleibt.
Was geschieht, könnte man sagen, ist der blosse factische Schluss
von dem, was im Bewusstseyn liegt. Kennte man die ganze E ntwickelung
des Menschen, alle Anteacta vor einer Handlung, alle
Einwirkungen vor derselben, die Stärke seiner Leidenschaften
und den Grad der Entwickelung der Vernunft-Principien in ihm,
so könnte man wahrscheinlich seine Handlungsiveise in jedem
Moment seines Lebens berechnen. Nach dieser Ansicht wäre
die wiilkührliche Bewegung die von dem selbstbewussten Ich vom
Sensorium aus ausgefuhrte Intention des Nervenprincips auf che
motorischen Nerven, deren Direction von der augenblicklichen
Bestimmung des Ichs durch irgend einen klar vorgestellten oder
verborgen wirkenden Grund abhängt. Eine unwillkühi liehe Bewegung
kann auch ins Bewusstseyn fallen, aber nur nachdem sie
geschehen ist, durch die Empfindungen, die sie hervorbringt;
hierdurch würden sich wiilkührliche und unwillkührliche Bewegungen
in gleichen Muskeln des animalischen Systems unterscheiden.
Da die Art und der Ort der willkührlichen Bewegung
nach dieser Ansicht jedesmal von der Bestimmung des Ichs durch
irgend einen klar vorgestellten oder verborgen wirkenden Grund
abhängt, so scheint diese Ansicht alle Freiheit des Willen» auf-
zuheben und es bliebe nur die Freiheit des Willens im hohem
moralischen Sinne, nämlich dass die Seele nicht an und für sich
genöthigt ist, den äusseren oder inneren leidenschaftlichen Bestimmungen
zu folgen, dass sie vielmehr in dem Grade von der
M ull e r ’s Physiologie. 2r Bd. 1, ^