
Die Phantasmen beim Irrseyn, bei der Hirnentzündung und
Hirnreiznng und in der Narcose werden bei offenen Augen noch
wahrgenommen und combiniren sich mit objectiven Sinneseindrücken.
, Einfache Hirnreiznng ohne Irrseyn begründet die Gesichte
derjenigen, die man Visionäre nennt. Je nach den geistigen
Richtungen sind die Gesichter religiöse, tröstende und hülf_
reiche,^ oder schreckende Gestalten Lebender oder Verstorbene1^
(hieher das second sight bei den nordischen Völkern). Die
Vision kann bei offenen Augen stattfinden, und Objectives mit
Subjectivem sich vermischen. Hierbei kann es Vorkommen, dass
das Objective wie durch einen Flor des subjectiven Bildes durchscheint.
Einige sehen die Gestalten von Anderen, Einige die
Gestalt ihrer selbst, Doppeltseher. Je nach dem Bildungszustande
des Visionärs werden die Visionen entweder für real oder für
krankhafte Zustände des Sensoriums gehalten.
Ein Visionär der ersten Art wird sowohl von sich selbst
verkannt, als von der abergläubischen Menge und demjenigen,
der ihn für einen Irren und Eingebildeten hält. Indem der Visionär
seine eigenen Sinneswirkungen verkennt, bleibt sein Verstand
hinter seinen Naturanlagen zurück.
Visionäre der zweiten Art waren die von Bonnet erwähnte
Person und Nicolai. Bonnet (analytische Versuche über die See.
lenkrüfle. Bremen 1780. 2 Th. p. 59.) kannte einen angesehenen
Mann, der eine vollkommene Gesundheit, Aufrichtigkeit, Beur-
theilungskraft und Gedächtniss besass, und der mitten im wachenden
Zustande ohne den geringsten äusserlichen Eindruck von
Zeit zu Zeit Figuren von Personen, Vögeln, Wagen, Gebäuden
vor sich und sich bewegen sah. Bisweilen veränderten sich dem
Scheine nach auf einmal die Tapeten in seinen Zimmern. Die
Erscheinungen machten einen eben so lebhaften Eindruck, als
die Objecte selbst. Dieser Mann wusste die Erscheinung richtig
zu beurtheilen und seine ersten Urtheile zu verbessern.
• Nicolai s berühmte Visionen waren im Jahre 1791. entstanden,
nachdem ein gewohnter Aderlass und das Ansätzen der Blutigel
wegen Hämorhoiden unterlassen worden. Auf einmal, nachdem
eine heftige Gemüthsbewegung stattgefunden hatte, stand plötzlich
die Gestalt eines Verstorbenen vor ihm, und noch denselben Tag
erschienen verschiedene andere wandelnde Personen, welches sich
in den nächsten Tagen wiederholte. Die Phantasmen erschienen
unwillkürlich und Nicolai war nicht im Stande, nach Willkür
diese oder jene Personen hervorzubringen. Auch waren die Erscheinungen
meistens unbekannte Personen. Sie erschienen bei
Tag und Nacht und mit Licht und Farben, die aber blässer als
an den natürlichen Objecten waren. Nicolai ging dabei aus.
Nach einigen Wochen fingen die Phantasmen auch zu reden an.
Vier Wochen nach dem Beginn dieser Affection wurden Blutigel
an den After gelegt. An demselben Tage fingen die Figuren an
zu verblassen, sich langsam zu bewegen, zuletzt zerflossen sie so,
dass von einigen Figuren eine Zeit lang noch einzelne Stücke zu
sehen übrig waren. Berliner Monatschrift 1799 Mai. Goethe
hat sich wegen der ihm durch Nicolai zugefügten Kränkungen
an ihm dadurch gerächt, dass er ihn als Proctophantasrniast in
die Scene vom Blocksberg im Faust versetzte, ein Zusammenhang,
der wohl bisher Wenigen bekannt geworden seyn dürfte.
Die seltenste Entwickelungsstufe der Phantasmen bei vollkommenster
Gesundheit des Geistes und Körpers ist die Fähigkeit,
bei geschlossenen Augen das willkürlich Vorgestellte wirklich
zu sehen. Es sind nur wenige Fälle dieser Art bekannt
geworden. Hierher gehören Cardanus, Goethe und noch einige
andere Fälle, die ich in der erwähnten Schrift mitgetheilt. Goethe
sagt in seiner Schrift zur Morphologie und Naturwissenschaft:
»Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloss und mit niedergesenktem
Haupte mir in die Mitte des Sehorgans eine Blume
dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten
Gestalt, sondern sie legte sich auseinander und aus ihrem Innern
entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl
grünen Blättern, es wuren keine natürliche Blumen, sondern
phantastische, jedoch regelmässig wie die Rosetten der Bildhauer.
Es war mir unmöglich, die hervorsprossende Schöpfung zu fixiren,
hingegen dauerte sie so lange als mir beliebte, ermattete nicht
und verstärkte sich nicht. Dasselbe konnte ich hervorbringen,
wenn ich mir den Zierrath einer buntgemalten Scheibe dachte,
welcher dann ebenfalls aus der Mitte gegen die Peripherie sich
immer fort veränderte, völlig wie die in unseren Tagen erst erfundenen
Kaleidoskope.«
Im Jahre 1828 hatte ich Gelegenheit mich mit Goethe über
diesen, uns beide gleich intercssirenden Gegenstand zu unterhalten.
Da er wusste, dass bei mir, wenn ich mich ruhig bei geschlossenen
Augen hinlege vor dem Einschlafen leicht Bilder in den Augen
erscheinen, ohne dass es zum Schlaf kommt, indem vielmehr die
Bilder sehr wohl beobachtet werden können, so war er sehr begierig
zu erfahren, wie sich diese Bilder bei mir gestalten. Ich
erklärte, dass ich durchaus keinen Einfluss des Willens auf Her-
vorrufung und Verwandlung derselben habe, und dass bei mir
niemals eine Spur von symmetrischer und vegetativer Entwickelung
vorkomme. Goethe hingegen konnte das Thema willkürlich
angeben, und dann erfolgte allerdings scheinbar unwillkürlich, aber
gesetzmässig und symmetrisch das Umgestalten. Ein Unterschied
zweier Naturen, wovon die eine die grösste Fülle der dichterischen
Gestaltungskraft besass, die andere aber auf die Untersuchung
des Wirklichen und des in der Natur Geschehenden gerichtet
ist. Man vergleiche über die Phantasmen Abebcrombie
inquiries concerning the intellectual poivers. Edinb. 1830, über Gehörphantasmen
meine erwähnte Schrift, 86 und F roriets JSot,
B. X. p. 10.
b. Auf Bewegungen.
Die Wirkung einer Vorstellung auf Bewegung erfolgt noch
leichter als auf die Sinne. Die Phänomene erscheinen unter folgenden
Bedingungen.
M iillc r ’s Physiologie. 2r. ßd. 111. 37