Ayas der Integration oder Erweiterung des jedesmaligen Seelenzu«
Standes adaequat ist.
Das Streben ist beständig mit Vorstellungen verbanden. Erstens
Avird diess Streben und die Empfindungen und Actionen,
die es im Körper hervorbringt, vorgestellt;' dann fallen die Dinge,
die erstrebt Averden, beständig ins Bewusstsein. Allen Vorstellungen,
die mit Strebungen sich verbinden, ist die Vorstellung
vom Selbst, vom Eigenleben das Grundthema. Aber die Vorstellung
vom Selbst und seiner Veränderung macht noch keine Leidenschaft
aus ohne Streben. So ist die Vorstellung vom jetzigen
Züstand des Selbstes gegen den früheren, A — a noch keine Traurigkeit,
und die Vorstellung A -\-a noch keine Freude. Vielmehr
gehört dazu, dass eine Leidenschaft werden soll, die Strebung,
die durch Vorstellungen gehemmte oder erweiterte Strebung.
Anderseits sind aber auch durchaus nur solche Vorstellungen
im Stande Leidenschaft zu erregen, welche auf das Selbst Bezug
haben.
So lange Veränderungen, ohne Beziehung auf. uns und unserer
Selbstempfindung verwandte Wesen, gedacht werden, fliessen
ihre Vorstellungen auch an uns vorüber ohne Leidenschaft, und
sie sind nicht unangenehm, sie erregen weder Traurigkeit noch
Begierden. Sobald aber die Vorstellung von uns.selbst eintritt,
von einer Schmälerung oder Erweiterung von tiriS selbst durch
die andere Vorstellung, so, tritt, so lange gestrebt wird, die Leidenschaft
der Traurigkeit und Freude und das Selbsterhaltungsstreben
in der Form der Begierden ein, indem die zur Vorstellung
gekommene, geschmälerte oder mit Mangel -behaftete Grösse des
Selbst zur Integration strebt. Das Selbstgefühl ist daher ein
Element aller Leidenschaften. Die Menschen gerathen zwar auch
über blosse Meinungen ohne mein und dein in leidenschaftlichen
Streit; aber bloss dann, wenn sie eine gewisse Meinung mit ihrem
Selbst durch Gewöhnung, Erziehung, Schicksale identificirt haben
und sie gleichsam einen Theil des Selbst in der Vorstellung ausmacht.
Wir gerathen auch in Leidenschaft für Andere und über Ereignisse
die Anderen begegnen, aber nur in wiefern sie unser Selbst-
. sefühl interessirt haben, als Andere uns ähnlich sind, und als io dem
Geschick der Andern das eigene Selbst beeinträchtigt wird. Ein
leidenschaftliches Verfechten von Meinungen verliert alles leiden-
denschaftliche und reducirt sich auf das objective, sobald man
das Object ohne Beziehung zum eigenen Seihst aufzufassen vermag.
Ist man mi't einer Untersuchung beschäftigt und man stösst nachdem
man lange einer Meinung gefolgt war, auf eine Thatsache, welche
beweist, dass diese uns schon stillschweigend eigen gewordene
Meinung falsch ist, so ist das unangenehm, weil diese Meinung
schon einen Theil von unscrm Selbst auszumachen angefangen bat.
An und für sich sollte uns eine nicht verödentlichte, in der Stille
concipirte und in der Stille abgelegte Ansicht gleichgültig lassen,
und vielmehr das nichtige allein angenehm seyn und dennoch ist
es eine allgemeine Erfahrung, dass eine zum Irrthum gewordene
lange gehegte Meinung traurig macht. Erst wenn die den Irt-
thiun beweisende neue Erfahrung vielfach durchdacht und gleich-
Vom Gemüth. Einfache Gemiithszustiinde. 539
sam wieder ein Theil unseres Seihst geworden ist, ist das Gleichgewicht
hergestellt. ' ' - _ _ • i
‘ Alle Leidenschaften lassen sich auf L u st, U n lu st, B eg ie rd e
zurückführen, und in allen wiederholen sich als Elemente Vorstellung
des Seihst oder Eigenlebens, Vorstellung der dem Eigenleben
entgegengesetzten, dasselbe hemmenden oder erweiternden
Grössen, Selbsterhaltungsstreben und Hemmung oder Forderung
desselben. , , ^ ' f ' ‘ . ..
Was das Verhältniss der Leidenschaften zur Organisation
und zum Gehirn betrifft, so kömmt es, wie ich glaube, vor allem
darauf an, die: schon öfter erörterte Thatsache voranzustellen,
dass das organische Wirken vor dem Vorstellen ist und durch
die Organisation des Gehirns erst das Seelenleben in der Weise
cles Vorstellens möglich macht. Vorstellen und Gemütsbewegung
verhalten sich nicht gleich in Beziehung auf das Gehirn. Ein
unbewusstes Streben dér Organismen hat seinen Grund nicht
allein im Sensorium commune. In allem Organischen finc^ t sich
ein Umsichgreifen Und Beharren im Besitz. Auch die Pflanze
strebt wachsend in diesem Sinn, und insofern ist das Streben
auch im Menschen viel weiter begründet, und vielmehr eine im
ganzen Organismus sich äussernde, die Organisation selbst bedingende
Thätigkeit. Bei den Thieren hat aber dieser organische
Appetitus seinen Reflex im Sensorium, und erscheint dem vorstellenden
Wesen, was die auf die Aussenwelt und das Ich sich
beziehenden Vorstellungen unterscheidet, als eine dunkle mstinkt-
artif sich geltend machende Macht des Eigenlebens {ich will;, als
eine Macht', die sich selbst fort und fort bejaht und affirmirt und
aus allen mit dem Eigenleben zusammenhängenden Vorstellungen
Nahrung zieht, indem sie Hemmung und Erweiterung darin vorfindet
Ob die Aufnahme und Sammlung dieser Reflexe im Gehirn
irgendwo durch die Organisation desselben erleichtert ist,
ob es in ihm in diesem Sinne eine affective Provinz gieht, diess
zu verneinen liegen keine allgemeinen Gründe vor. Es fehlen
aber auch alle Thatsachen, welche die Absonderung von Organen
für die Appetite wahrscheinlich machten, und jedenfalls giebt es
nnr überhaupt einen einzigen und gleichen Appetitus, eine einzige
ursprüngliche Sucht der Beharrung und des Umsichgreifens, wel-■
che verschiedene Vorstellungsobjecte haben kann und durch die
organischen Zustände derjenigen Organe, die mit der Aussenwelt
in specifischem Verkehr sind, Richtung erhalten kann. Siehe
über die GALi/sche Scliädellehre oben I. Band, 3. Auflage p. »54.
Man kann durch bloss körperliche Veränderungen einmal
weniger, ein andermal mehr zu Leidenschaften, zu Freude,
Traurigkeit und Begierden disponirt seyn. Die Leidenschaften
und Begehrungen der Liebe werden hei geringer Disposition zur
organischen Mittbeilung und Erregung und hinreichender äusserer
Ursache zuweilen gar nicht erregt, dagegen bei geringer äusserer
Ursache und grosser organischer Spannung im Nervensystem und
den Gescblecbtsthcilen, sehr leicht erregt. Eine Leidenscbatt, eine
Zutraulichkeit, Offenheit, Freundschaft, die im nüchternen Zu-
stände nicht möglich ist ^ wird durch Veränderung der ergatu