VI. Kapitel.
K i r g h i s e n.
Frühere Unsicherheit. — Ableitung und Unrichtigkeit des Namens „Kirghis“'. —
Kassak. — Echte oder Kara-Kirghisen. — Buruten. — Erster Eindruckgjgä Abstammung.
— Physiognomie. — Bassencharacter. — Statur. — Sprache. — Geschichte.
— Pallas’ Berichte. — Dschingis-Chan. — Batu-Chan. — Kutschum-Chan. —
Zeit der höchsten Blüthe. — Kalmückenreich. — Irtischlinie. — Krepostj. —
Unterwerfung der kleinen und mittleren Horde. —| Kleine Horde zieht an die
Wolga. — Innere oder Bukeische Horde. — Neue Linie. — Batyren. — Grosse
Horde unterwirft sich. — Russische Eroberungen in Central-Asien. — Kirghisen-
Aufstände. — Geringe Tapferkeit. — Baranta. — Die drei Horden und ihre Gebiete.
— Gesammtzahl der Kirghisen. — Grösse des Kirghisenlandes. — Verschiedene
Stände.;-Geschlechter. — Administrative Eintheilung. 3 ' Gerichtsverfahren
jetzt und sonst. — Verwaltungsbehörden. — Steuer. — Charactereigenschaften. —
Gastfreundschaft. — Glauben. — Wahrsager. — Kirghisenschulen. -™- Anfänge im
Ackerbau. — Heerden. — Das Kirghisenpferd. — Schafe. — Wanderzüge. —
Winterquartiere. — Viehreichthum. — Hirtenleben. — Milchwirthschaft.B- Kumiss.
— Nahrungsmittel. — Massigkeit, Beinlichkeit und Schmutz. — Bauchen. —
Gesundheitszustand. — Jagd. — Handwerke. — Frauenarbeit. — Kleidung. —
Tauschhandel. — Wohnungen. — Jurten und Kosch. — Polygamie, Hochzeiten und
Begräbnisse. — Gesang nnd Dichtkunst. — Neugierde. — Schnelle Verbreitung
von Nachrichten in der Steppe. — Hippomanie und Astronomie. — Märchen
und Redekunst.
„Wir waren nicht betrübt ein Volk zu verlassen, bei dem
Räuberei, Mord und Zerstörung ungestraft ausgeführt werden“
lauten die wenig empfehlenden Worte, mit denen sich Atkinson
in seinem bekannten Reisewerke von unseren Freunden den Kirghisen
verabschiedet, Worte, die nach unseren Erfahrungen ebenso hart
als ungerecht erscheinen. Denn wir hatten eben nur die grösste
Zuvorkommenheit und Gastfreundschaft bei diesen Steppensöhnen
gefunden, waren freilich aber kaum soviel Monate als Atkinson
Jahre mit ihnen im Verkehre gewesen und etwa 3 Decennien später,
was einen grossen Unterschied macht. Da Atkinson nicht nur verschiedene
Male räuberische Anschläge zu gewärtigen, sondern auch
thatsächlich sich seiner Haut zu wehren hatte, so darf man ihm das
vorwurfsvolle Testimonium nicht verargen. Und dass m damaliger
Zeit dieses Urtheil ein durchaus gerechtes war, erhellt aus allen
Reiseberichten. Gmelin erlebte es noch (1734), dass Semipalatmsk,
trotz seiner Befestigungen, in panischen Schreck vor einem erwar
teten Einfall der Kirghisen gerieth und Pallas wagte es (1769) noch
nicht mit einem benachbart lagernden A-ule nach eingebrochener
Dunkelheit zu verkehren. Das war freilich vor mehr als einem
Jahrhundert, aber auch später galt eine Reise durch die Steppe
keineswegs als gefahrlos. Meyer wurde 1826 in den Arcatbergen,
wo wir so freundliche Aufnahme fanden, noch angefallen und Hel-
mersen’s Expedition musste im Jahre 1834 als Schutzmittel Nachts
noch eine Wagenburg aufschlagen und konnte die Pferde nur unter
scharfer Bedeckung weiden lassen, Schrenk reiste (1842) noch mit
20 Kosaken und Wlangali’s Expedition (1851) war ausser zahlreichen
Kosaken sogar ein Zug leichter reitender Artillerie beigegeben.
Wenn darüber nun auch abermals anderthalb Decennien verstrichen
sind und sich in dieser Zeit die Kirghisen im Zwange der Verhältnisse
wesentlich gebessert haben mögen, so scheinen sie doch nicht ganz
mit Unrecht zu ihrem Namen gekommen zu sein. Denn „Kirghis“,
gleichbedeutend mit dem türkischen „Kirsis“, heisst eben „Räuber“.
Kein Wunder daher, dass die Leute diese Bezeichnung als Schimpfwort
betrachten, denn sie selbst nennen sich eben „Kassak“ (Chazak)
und sind wahrscheinlich mit dem Namen „Kirghis-Kaisak“, den
man ihnen auch beilegt, ebenfalls nicht zufrieden. So gern ich
auch nun die dem Volke durch die so häufige mündliche und
schriftliche Benutzung des schimpflichen Wortes angethanen
Beleidigungen für meine Person hiermit öffentlich zurücknähme,
so scheint es mir doch ein nutzloses Beginnen ihren ehrlichen
Namen damit zugleich zu restituiren, obgleich dies schon aus wissenschaftlichen
Gründen sehr wünschenswerth wäre. Denn die eigentlichen
„Kirghisen“, denen einzig und allein diese Bezeichnung zukommt,
sind ein zwar verwandter, aber doch verschiedener Völkerstamm,
mit denen wir auf unserer Reise nicht zusammentrafen.
Sie lebten nach Klaproth’s Forschungen im 5. Jahrhundert am