7000 ihm gehörige. Es lässt sich daher denken, dass dadurch unzählige
Tundrenhewohner verarmten; wir selbst lernten verschiedene
kennen, die, vorher reiche Heerdenhesitzer, jetzt arme Schlucker
waren. Wenn nach den mir von amtlicher Seite gewordenen Mittheilungen
der District .Obdorsk nur an fünfzigtausend Renthiere
zählt, so sieht es allerdings bedenklich aus, denn ein solcher Bestand
kann ja einem einzigen Seuchenjahre zum Opfer fallen. Glücklicherweise
scheinen aber, unerklärbar, wie die Seuche selbst, Verhältnisse
zu walten, die wenigstens ein völliges Aussterhen verhindern. So
durchzogen zu derselben Zeit Renthierheerden jene Gebiete, auf denen
wir nur dem Tode begegneten, ohne ein einziges Stück zu verlieren,
wie die russische Expedition, als sie zum zweiten Male Renthiere
erlangte.
Jedenfalls verdient die Seuche vollste Aufmerksamkeit und es
würde gewiss nützlich sein, dieselbe regierungsseitig an Ort und
Stelle durch gewissenhafte und unterrichtete Veterinärärzte untersuchen
zu lassen und sich nicht mit der Erklärung Schrenk’s (II. p. 382) zu
trösten, der die Seuche als nothwendige Phase im Haushalt des
Renthiers hält, damit sich die Weiden wieder erholen können. Mit
dem Mangel von Renthieren muss die eingeborne Bevölkerung immer
mehr verarmen und in das Stadium von ans der Hand in den Mund
lebenden Fischern herabsinken. Ohne Renthiere bleibt die Tundra
und das was sie an Pelzthieren u. s. w. besitzt unzugänglich, unver-
werthbar, ohne Renthiere verlieren die Eingebornen ihre grössten
Hilfsquellen für Tausch, Nahrung, Kleidung, Wohnung u. s. w.
In dieser Richtung würde die Regierung durch Einführung frischer
Heerden, vielleicht aus Ost-Sibirien, und vorschussweises Uebergeben
derselben an strebsame und zuverlässige Eingeborne (denn es giebt
solche) unendlich mehr Nutzen stiften, als durch Unterstützung im
Fischereigewerbe, in welchem die höhere Intelligenz der Russen doch
stets die Oberhand behalten wird, und auf diese Weise jedenfalls
am wirksamsten der gänzlichen Verarmung dieser Gebiete entgegen
treten. Dass unsere anfänglich ertheilten Rathschläge von Eingraben
der Cadaver, Desinficiren, Isoliren der Heerden u. s. w. von den
Eingebornen, und mit Recht, belächelt werden mussten, lernten wir
später selbst einsehen. Eine Renthierheerde ist der Weide wegen
zum Wandern gezwungen, es lässt sich nicht verhindern, dass gesunde
Thiere, was sie so gern thun, zu ihren gefallenen Kameraden
zurücklaufen, sie beschnüffeln und belecken und von Eingraben kann
hei schon in 11/2 Fuss Tiefe gefrorenem Erdboden nicht die Rede sein.
Dsäungiä hatte an einem Tage 500 Stück Renthiere verloren, hätten
da die Kräfte von vielleicht 8—10 Menschen, selbst im Besitz guter
Geräthschäften, nur entfernt ausgereicht Gruben zu graben? Und
Verbrennen verbietet sich bei dem gänzlichen Holzmangel von selbst.
So müssen die Nomaden eben Alles gehen lassen wie es will, und
wenn wir anfänglich ihren stoischen Gleich muth als Stupidität auslegten,
so thaten wir ihnen Unrecht. Auch Gebildete sind unter den
gegebenen Verhältnissen dieser Seuche gegenüber machtlos! Als die
Heerde herbeigetrieben war, hatten unsere Ostiaken und Samojeden
einen Festtag, unter derselben herumzuwählen und mit kundigem
Auge und geübter Hand aussuchen zu können. Bald standen neun
der besten, anscheinend völlig gesunden, dreijährigen Ren vor drei
Schlitten, auf die unser Gepäck geladen war, und erleichtert konnten
wir frischen Muthes Nachmittags 4 Uhr (31. Juli) den Weitermarsch
antreten. Denn es galt so schnell als möglich aus der inficirten
Gegend, die uns auf Schritt und Tritt die Verheerungen der Seuche
zeigte, fortzukommen. Das drohende Gespenst, über kurz oder lang
selbst wieder die Bündel aufnehmen zu müssen, schwebte freilich
noch wie ein Damoklesschwert über uns, denn wenige Stunden
konnten uns sämmtliche Zugthiere rauben. Wirklich verloren wir
noch am Abend desselben Tages (31. Juli) ein Ren, was natürlich
die Besorgniss nur erhöhte, welche Feodor Kasainofif, der Psalmensänger,
durch längere Litaneien und Gesänge die Hülfe der Heiligen
erflehend, zu zerstreuen versuchte. Stepan, unser Russe, meinte
freilich, dass auch der liebe Gott wol ein Wort mitzureden und in
Anbetracht der „schweren Bürden und des vielen für die Ren verausgabten
Geldes“ ein Einsehen haben werde. In der That hatten
wir alle Ursache zufrieden und dankbar dafür zu sein, dass wir, wie
ich gleich vorausschicken will, noch drei Ren lebend nach der
Schtschutschja mit zurückbrachten. Wir schritten immer in nordwestlicher
Richtung vorwärts, so schnell als es bei dem schwierigen,
mühsamen, oft erschöpfenden Wege eben gehen wollte. Von irgend
einem gebahnten Pfade konnte ja überhaupt nicht die Rede sein,
ausser denen, welche die zahlreichen Lemminge und Eisfüchse für
ihren Privatgebrauch getreten hatten. Die Tundrengebiete Nord-
West-Sibiriens tragen im Wesentlichen denselben Character und
unterscheiden sich von denen Ostfinnmarkens hauptsächlich durch
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