Die Worte Castrens (p. 109): „Nichts Neues und Ungewöhnliches
traf mein Auge; überall gab es dieselben niedrigen, lehmigen,
einstürzenden Ufer, die immer und ewig mit denselben Weiden bewachsen
sind“ characterisiren die Landschaft des linken Obufers
trefflich. Aber er lernte nicht das rechte unterhalb Samarowa
kennen, welches zwar ebenfalls unverändert gleiche Bilder, aber von
ganz anderem Gepräge bietet.
Statt flachen mit Weiden besetzten Landes, tritt überall ein
oft an zweihundert Fuss hohes, steil abfallendes, aus hellgefärbtem
Sande und Mergel gebildetes Ufer auf. Dasselbe ist hier und da
mit Pflanzen bekleidet, während die zahlreichen rechtwinkeligen
Einschnitte, wie der Scheitel des Ufers selbst, mit dichten Waldungen
bedeckt sind, die jetzt im vollen Herbstschmuck prangten. Das
dunkle Schwarzgrün der Fichten, Arven und Kiefern (letztere seltener),
wechselt mit dem helleren Grün der Lärchen nnd den gelb bis orange
gefärbten Birken, welche' oft den Grundton bilden und zwischen
denen sich rothe Ebereschen und Espen gar wechselvoll abheben.
Diese herbstlichen Vegetationsbilder sind allerdings bei Weitem nicht
so grell als die, welche ich in Nordamerika während des „Indiansummer“,
zu sehen bekam, aber belebter als bei uns, und geben
zuweilen wahrhaft malerische Bilder. B- Der Strom, welcher sich
früher direct an das Hoehufer, dasselbe unterspülend, anlehnte, hat
jetzt einen breiten, meist allmählig ansteigenden, Strand freigelassen,
der die verschiedenen Fluthmarken zeigt, deren höchste durch einen
mächtigen Gürtel Treibholzes bezeichnet wird. Dieser Strand, wie
die Ufer aus Lehm, Letten und Sand gebildet, ist vielfach mit
kleinen und grossen oft blockartigen Geröllsteinen bedeckt, die
ohne Zweifel mit dem Eise herabkamen. Es finden sich alle möglichen
Fels- und Gesteinsarten darunter; vorzüglich granit- und
syenitartige, sowie Schiefer- und Porphyrgesteine, eigenthümliche
Breccien und unzählige Kieselverbindungen, unter letzteren namentlich
schöne Aventurine, Kieselschiefer, Hornsteine und selbst ziemlich
reine, aber kleine Carneole. Petrefacten führende Felsarten sahen
wir niemals; dagegen fand ich einmal ein Bruchstück der Schale
eines Mammuthzahnes. — Der Fluss, obschon so bedeutend gefallen,
erschien immerhin noch als ein stattlicher, wenn er auch öfter durch
breite und ausgedehnte Sandbänke unterbrochen war und seine
waldumgrenzten Einbuchtungen verloren hatte, die jetzt ausgetrockneten
Seen glichen und nur noch scbmälere Wasseradern
zeigten. — Die Färbung des Obwasser erschien auch jetzt, bei
niedrigem Stande, braun, im Glase aber hell und schmeckte uns
vorzüglich; wahrscheinlich weil wir uns daran gewöhnt hatten.
Diese an Ort und Stelle entworfene Landschaftsschilderung
stimmt wenig überein mit der welche Albin Kohn (p. 158, 159)
vom „Riesen unter den Strömen der Erde, dem Ob“ entwirft, den
er an Schönheit' als einen Nebenbuhler des Rhein betrachtet, freilich
bei Hoch wasser. Aber wenn Kohn schon die öden Ufer des Irtisch
bei Semipalätinsk und Pawlodar als „romantisch“ bezeichnet, obwol
er sie selbst gar nicht kennen lernte, so ist dies eben ein Geschmack
mit dem sich nicht rechten lässt. Wer vom Ob, sowol bei hohem
als niedrigem Wasserstande soviel zu sehen bekam als auf unserer Reise,
darf in dem Bestreben „zur Aufklärung und Beseitigung von Irr-
thtimem beizutragen, behaupten, dass Landschaftsbilder wie das auf
p. 161*) in Sibirien“ am Ob, wenigstens unterhalb Tomsk, gar nicht
Vorkommen, anstatt „gar nicht selten sind“ wie Kohn versichert. Auch
die Stelle (p. 163) „den Ob selbst bedeckten Hunderte von Inseln,
hin und wieder kleine Archipele bildend“, ist. nicht wörtlich zu
nehmen. Die beste Charakterisirung des Ob giebt jedenfalls Castren
wenn er sagt: „Mit europäischen Augen betrachtet ist der Ob ein
wilder und einförmiger Fluss, der bei dem Beschauer wol keine
anderen Gefühle als die der Sehnsucht und der Wehmuth rege macht“.
Wird der Ob seiner landschaftlichen Reize.wegen voraussichtlich
niemals ein Anziehungspunkt für Touristen und Vergnügungsreisende
werden, so verdient er als einer der grössten Ströme Sibiriens umsomehr
Beachtung,
Wie wir gesehen haben wird der Ob (ost. Ass, samoj. Ja-u)
aus den Flüssen Bija und Katunja gebildet, die beide im Herzen
des Altai, am Fusse der Belucha entspringen. Von der Vereinigung
dieser Flüsse, welche ihm den russischen Namen „Obi“ d. h. Beide
(Ledebour p. 148) verschaffte, unweit der Kreisstadt Biisk, beträgt
seine Länge bis zur Mündung, nach Latkin, 3200 Werst (457 deutsche
Meilen). Unter den Strömen Europa’s, wenn man ihre Entwickelung
und zwar von den Quellen an rechnet, hat nür die Wolga eine
fast gleiche Länge aufzuweisen, die Donau hingegen nur ca. 2800 W.,
der Rhein 1300, die Elbe 1100 und die Weser nur etwa 500 Werst.
*) Das Bild ist eine Copie nach Atkinson (p. 13) nnd stellt den Ob bei
Gubena, etwas nnterbalb Barnaul, dar, wo ihn Albin Kohn schwerlich gesehen
haben dürfte.