Exemplar welches uns auf der ganzen Reise zu Gesicht kam, war
bereits grösser als der stärkste Bock bei uns. Obrist Slobin zeigte
uns auch eine durch die Fundumstände höchst merkwürdige Rehstange.
Es war ein abgebrochenes Stangenende, welches man tief
in einen Baum eingerannt, den übrigen Th eil der Stange aber,
bereits ziemlich verwittert, am Fusse des Baumes gefunden hatte.
Das abgebrochene Ende sass noch in einem ausgesägten Stücke des
Baumstammes fest. Diese Kraftprobe verwundert nicht, wenn man
sieht, wie colossal Gehörne des Sibirischen Reh werden, die übrigens
an Ort und Stelle sehr schwer zu bekommen sind, weil man sie gewöhnlich
als werthlos wegwirft. So- erhielt Graf Waldburg in Barnaul
ein Gehörn von 13 Zoll 8 Linien Höhe, 12 Zoll Spitzen weite und
l 6/io Pfund Gewicht. Solche in Sammlungen bei uns hie und da
vorkommende Rehkronen, als sogenannte „Urböcke“ bezeichnet,
sind nach Graf Waldburg nicht einheimischen Ursprungs, sondern
stammen aus Sibirien.
Gegen 4V2 Uhr Nachmittags nahmen wir von der freundlichen
Familie Slobin Abschied, deren gastliches Haus durch
einen wohlgepflegten Garten für den Westeuropäer ganz besonders
anheimelte, da derartige Anlagen in Sibirien zu den Ausnahmen
gehören. Wir hatten bis zur Station Rutschiowa
(25 W.) denselben Weg als am vorhergehenden Tage zurückzulegen
und lernten dabei die Gegend bei heiterem Wetter kennen.
Kolywan liegt in der That sehr lieblich in Granitbergen, die z. Th.
bewaldet, besonders ansprechend wirken. Es sind die Ausläufer
des Tigeretz-Gebirges, unter deren höchsten Spitzen die Sinaja-Sopka
(blaue Kuppe), etwa 6 Werst von Kolywan, sich hauptsächlich bemerkbar
macht. Sie soll an 5000 Fuss Höhe erreichen, machte aber
auf uns, die wir eben aus dem Hochgebirge zurückkehrten, keinen
tieferen Eindruck. Aber alle die sich von Nordwesten dem Altai nähern
und schon von Bamaul an sehnsüchtig Blicke nach den Bergen
werfen, erwähnen, dieselbe als erstes Wahrzeichen des Altai. So
Rose (p. 523), der sie schon bei Platowskaja, noch mehr als 100
Werst entfernt, „durch Strahlenbrechung gehoben“, erblickt haben
will, während Meyer (p, 175) und Bunge (p. 5) Kurijinsk (kaum
60 Werst) als ersten Beobachtungspunkt angeben. Wir erreichten
diese Station (auch Kurie oder Kurija genannt),. bis zu welcher ich
den braven Iwan mit unseren 3 Gepäckwagen von Schlangenberg
aus (67 W.) direct vorausgesandt batte, gegen Abend 10 Uhr und
noch war ein röthlicher Streifen als letzter Rest des Abendrothes
am Horizonte sichtbar. Kurie hat noch ein ganz besonderes Interesse
dadurch, dass Schürfungen hier Kohlenlager nachgewiesen
haben, über die Cotta (p. 103) berichtet.
Der Weg von Kolywan führt z. Th. an kahlen Granit- und
Marmorbergen hin, in deren Schluchten, des ungewöhnlich verspäteten
Frühjahrs halber, hie und da noch Schnee lag. In grellem Widerspruche
mit Letzterem stand die ungemein üppige Vegetation,*)
welche in einer Fülle schöner Blumen herrliche Wiesengründe bedeckte,
namentlich aber in jenen Gesträuchdickichten gipfelte, m
denen, wie ich bereits erwähnte, die Heckenkirsche (Lonicera tata-
rica), Spiersträucher, Rosen u. s. w. der Gegend werstweit den
Character eines verwilderten Gartens verliehen. Ihre jetzt in voller
Pracht stehenden Blüthen verbreiteten einen oft bemerkbaren wohlriechenden
Hauch, mit dem der Schlag des. Sprossers in poetischem
Einklänge stand. Jetzt waren wir wieder auf hügeliger Steppe,**)
von durchaus abweichendem Character, aber auch ihr fehlte es nicht
an eigenthümlicher Schönheit und poetischem Reiz. Weite Flächen
eines feinhalmigen Federgrases (Stipa), dessen silberglänzende wehenden
Grannen an bewegtes Wasser mahnen, die „Kavyl“ des Volksmundes,
umgaben uns so weit das Auge reichte, ähnelten jetzt aber, leicht
vom Winde bewegt, täuschend einem wogenden goldigen Meere, da
die untergehende Sonne sie mit ihren Strahlen beleuchtete. Dazu
ein entzückend gefärbter Himmel, tiefblaue, herrliche Wolkenbildungen,
*) Yergl. hierauf bezüglich Ledebour (p. 194): „Die Pflanzen sind z. Th. so
entwickelt, dass man die Blumen auf dem Pferde sitzend pflücken kann“ ; Pedicu-
laris proboscidea mehr als 4 Fuss hoch“ ; Meyer,(p. 206—209); Bose (p. 575); „Süivum
cernuum bis 9 Puss lang“ (Ehrenberg).
**) Diese Skizze, wird im Verein mit denen, welche ich bereits über die Steppe,
oder besser Steppen, gab, lehren, dass es unmögüch ist ein Gesammtbild derselben
zu entwerfen, welches nur annähernd 'der Wirklichkeit entspricht. Brehm hat
vollkommen Becht, wenn er in dem erwähnten Artikel über das Wildpferd (Nord
und Süd, Heft V. 1877) sagt: „die Steppe bedrückt und erhebt, langweilt und fesselt,
tritt ewig wechselvoll vor das Auge und bleibt immer dieselbe“. Aber das weitere
Bild, welches er von der Steppe entwirft und welches sogar den Winter mit seinen
Schrecken in voller Farbenfrische, gleichsam als selbst gesehen, schildert, ist eben
als ein Verschmelzungsproduct aller von uns gesehener Steppen weiter durchgeführt.
Was A. v. Humboldt (Ansichten der Natur I. p. 7) über die Steppe in gewohnter
Meisterschaft sagt, ist e b e n nur für einen gewissen Theil derselben, die Krautsteppe,
richtig.