mehrere Arme getrennter, nicht tiefer, aber ungemein reissender Fluss,
der bei Hochwasser allerdings gewaltig und unpassirbar sein muss.
Sein steiniges, mit Rollsteinen bedecktes Bett machte auch jetzt
den Tritt der Pferde und somit den Uebergang unsicher, denn von
einer Furth' ist bei diesen Gewässern nicht die Rede. Das Ueber-
setzen gestaltete sich daher zu einem jener lehhaften und charakteristischen
Bilder, denen gegenüber ich nur bedauerte, nicht in der
Lage zu sein, den Stift gebrauchen zu können. Um nämlich den
Anprall der Strömung etwas zu schwächen, ritten die Kirghisen in
den Fluss und bildeten gleichsam eine Mauer, an welcher sich das
brausende Wasser zuerst brechen musste. So kam Alles, auch die
fiir solche Passagen am meisten unbehilflichen Kameele, glücklich
hinüber und gegen Mittag zogen wir in die kleine russische Kolonie
Udsch-aral ein, an -deren Eingänge uns die Aeltesten begrüssten und
uns als Zeichen der Hochachtung Salz und Brot darbrachten,
Udsch-aral d. h. wörtlich „Drei-Land“ war die einzige ländliche
Russen-Niederlassung, welche wir in der Dsungarei zu Gesicht bekamen
und blieb es. Die Kolonen, Kleinrussen aus dem Gouvernement
Woronesch, hatten eigentlich nach dem Amur auswandern wollen,
denselben aber bei gänzlicher Mittellosigkeit nicht erreichen können.
Schon unterwegs waren sie irgendwo gezwungen gewesen einen Sommer
zu verweilen, um bei der Feldarbeit zu helfen und damit die Mittel
zur Weiterreise zu verdienen. So hatten sie denn, ich glaube im
dritten oder vierten Jahre, glücklich Turkestan erreicht und diese
Kolonie gegründet. Sie mochte vielleicht 100 Seelen zählen und
bestand aus etwa 15 Häusern, die, wegen Mangel an Holz, von Lehm
(Luftziegeln) erbaut und mit Stroh gedeckt waren, aber im Ganzen
recht freundlich, im Innern reinlich erschienen.
Wie wir in der Folge bemerkten waren die Leutchen in den
vier Jahren ihres Hierseins recht fleissig gewesen. Dafür sprachen
die künstlich bewässerten reichen Wiesengründe und die urbar gemachten
Felder. Sie führten unwillkürlich zu einer Vergleichung
mit dem Feldbau der Kirghisen, von dem wir auf der Herreise eine
zweite Probe gesehen hatten. Diese Steppensöhne betreiben selbst
gegenüber der primitiven Landwirthschaft dieser Russen, den reinen
Raubbau und schädigen das Land durch das Abdämmen von
Flüssen, deren Lauf dadurch gehindert, theilweis verändert und wodurch
das Austrocknen der Seen begünstigt wird. Freilich sind diese
Steppen bis jetzt noch Privileg der „Wanderhirten“ und ihrer Heerden
und ob es der handvoll permanenter Russen gelingen wird, sich in
diesen Strecken dauernd und als vorherrschende Rasse festzusetzen,
scheint mir wenigstens noch zweifelhaft. Jedenfalls sehen die
Kirghisen ackerbauende Einwanderer mit scheelen Augen an, und
hätten wir die-Klagen der Aeltesten in Udsch-aral angehört, so
würden wir wahrscheinlich mancherlei interessante Aufschlüsse erlangt
haben.
Nach Wenjukow würde die „trostlose Steppe“ südlich vom
Tarbagatai überhaupt gar nicht die Mühe des Ackerbaues lohnen,
aber die Kolonie Udsch-aral scheint dem zu widersprechen. Und
wer die viel trostlosere, wüstenartige Steppe des grossen Salzseebeckens*)
und die Erfolge, welche die energischen und unermüdlichen
Mormonen dort erzielten, gesehen hat, wird zugeben müssen, dass
bei ähnlichen Anstrengungen durch ein richtig geleitetes Bewässerungssystem
sich hier wahrscheinlich viel mehr erreichen liesse.
Immerhin würde damit das Semeritschenskische Gebiet in den nächsten
50, sagen wir dreist 100 Jahren, noch kein Utah werden und eine
Stadt wie Salt-Lake-City in seinen Grenzen sehen. Um dies anzubahnen,
sind natürlich vor Allem fleissige Arbeiter nöthig, und als
solche sind Kirghisen nicht recht geeignet. Trotz dem, für Fremde
so imponirenden Reichthum dieser Nomaden an Viehheerden, rechnet
Wenjukow nach, dass der Gesammtwerth der letzteren nur ein Kapital
von 51 Millionen Rubel ausmacht, was pro Kopf 3472 Rubel ergiebt.
Bei der günstigsten Procentberechnung dieser unbedeutenden Summe
würde dies nur 8l/2 Rubel jährliche Einnahme pro Kopf ergeben,
so dass „der ärmste Lette oder Weissrusse diesen Proletariern Mittel-
Asiens gegenüber als Kapitalist erscheint“. Es wäre in der That
*) Erfahrene Trapper wie Jim Bridger u. A. hielten eine Ansiedelung hier
für ganz unmöglich und erklärten Brigham Young für verrückt, als er dieselbe
dennoch wagte. Was würden diese Leute, die. damals für jede m dieser Wüste
gezogene Kornähre einen Dollar zu geben versprachen, sagen, wenn sie jetzt das
blühende Utah mit Salt-Lake-City, einem wahren Paradies, sehen sollten. Als
Young im Jahre 1847 mit einer Schaar von ein paar Tausend Einwanderern, die
sich durch Wildnisse und feindliche Indianerstämme 223 deutsche Meilen (1561
Werst) weit Bahn gebrochen hatten, hier ankam, fand er nichts als eine mit
Artemisien bedeckte trostlose Einöde. Aber unerschrocken begannen die von der
Reise erschöpften z. Th. kranken Leute das Gründungswerk und Salt-Lake-City
ist heut nach kaum 30 Jahren eine Stadt mit a l l e n europäischen Annehmlichkeiten
und zählt an 30,000 Einwohner, also annähernd soviel als die grösste Stadt Sibiriens
(Irkutsk 1654 gegründet mit 32,789 Einw.).