viel urbares Land mit zahlreichen, oft sehr grossen und stattlich
aussehenden Dörfern', die regen Betrieb von Ackerbau und Viehzucht
bekunden. Vor den Dörfern lagerte in ungeheuren Haufen
ungedroschenes Getreide, an dessen Aehren sich unzählbare Schaaren
von Dohlen und Nebelkrähen gütlich thaten, während den Grund
desselben heiteres Borstenvieh unterwühlte. Denkt man sich dazu
noch Legionen von Mäusen so findet man die enormen Verluste begreiflich,
welche durch diese lüderliche Wirthschaft entstehen und
welche Knorre (Geogr. Blätt. II. p. 126) durch Zahlen belegt. Die
guten Schweine trieben oft weit ab von den Dörfern auf Stoppelfeldern
und Wiesen ihr Wesen. Sehr amüsant war es, Dohlen und
Krähen in der Nähe von Schweineheerden zu beobachten. Oft
sahen wir sie einzeln oder paarweise auf dem Rücken eines Grunz-
thieres, dieses von lästigen Schmarotzern befreiend.
Am 10. October, Abends 8 Uhr, kamen wir in Tjumen an, hatten
also die 254 Werst (c. 36 d. M.) lange Strecke in 32 Stunden zurückgelegt,
dabei aber durch 3 Plussübergänge Aufenhalt gehabt.
Freilich waren wir nicht so schnell gereist als Pallas, der dieselbe
Strecke in 19 Stunden machte und Gmelin fuhr sie gar in 16, wobei
nur 2 Mal umgespannt wurde-, weil es damals noch keine Stationen
hier gab. Jetzt sind deren neun!
Da unser Gastfreund Iwan Iwanowitsch leider unpässlich war,
so stiegen wir in dem sehr gut eingerichteten „Hotel Sölowiewa“
ab, und hatten bald alte Bekannte, unter ihnen unsern Freund, den
Ispravnik Wassili Constantinowitsch zu begrüssen und Erlebtes auszutauschen.
Iwan Iwanowitsch ■ galt natürlich unsere erste Visite,
hatte er doch in der liebenswürdigsten Weise für die Expedition
gesorgt, z. B. uns seine Dampfer unentgeltlich zur Benutzung gestellt,
ebenso die Kisten (26 im Gewicht von fast 50 Pud) gratis
befördert, also mehr als irgend ein anderer Grosshändler für die
Expedition gethan.
Durch die Güte des Ispravnik erhielt ich einen Zimmermann
zugesaudt, denn ich hatte für den Rest der noch unverpackten
ethnologischen Sammlung neue Kisten machen zu lassen. „Sind
Sie der Zimmermann? fragte ich einen kleinen Mann, der als vom
Ispravnik geschickt sich vorstellte. „Nein, der Tischler!“ antwortete
er, anscheinend beleidigt, und ich trug ihm meine Wünsche vor.
Der brave Tischler war aus den Ostseeprovinzen, also ein Spraeh-
verwandter, aber, wie zu erwarten nicht freiwillig hier. Seines
Handwerks überdrüssig, .hatte er sich dem Postfach in die Arme
geworfen und, von einem tüchtigen Postmeister unterrichtet, gleich
damit angefangen, Briefbeutel nicht zu versiegeln, sondern — aufzuschneiden.
So kam er nach Sibirien. Als geschickter Arbeiter
hätte er sich jedenfalls eine behäbige Stellung gründen können, denn
Niemand fragt hier, was der „Unglückliche“ eigentlich verschuldet
hat. Aber „Schnaps, Schnaps“ hatte den Mann, der seinen Namen
„Reinhold“ sehr mit Unrecht trug, „denn ich bin weder rem noch
hold“ bemerkte er selbst lachend, nicht auf einen grünen Zweig
kommen lassen. Dies eine, der vielen Beispiele wird zeigen, dass
Deportation, welche hier auch selbst dem argen Missethäter eigentlich
wieder zum ehrlichen Namen verhilft, nur in den seltensten
Fällen ihn auch wieder zum ehrlichen Manne macht. So viel
Humanes das Deportationswesen auf der einen Seite hat, so inhuman
ist es auf der anderen. Schon dadurch, dass es alle Familienbande
löst, denn jeder Verurtheilte, sei es nun zu Zwangsarbeit oder nur
zur Ansiedelung (Posseljenje), verliert nicht nur sein ganzes Vermögen,
sondern ist zugleich bürgerlich todt. Ja es giebt sogar eine
eigene Categorie unter den Verbannten, die sich selbst „namenlos“
nennen.
Viele dieser Kettenträger entfliehen nämlich, arbeiten wol eine
zeitlang in den Goldbergwerken, wo ein äusserst wildes Leben
herrschen soll, oder unternehmen auf eigne Faust Streifzüge, im
Lande, sie werden sogenannte Bradjagen (Vagabunden). Ihre
Existenz wird dadurch erleichtert, dass der sibirische Bauer an verschiedene
Orte Lebensmittel hinstellt, welche diese Durchzügler bei
nächtlicher Weile verzehren. Es geschieht dies aus „Gutmütigkeit,“
aber mir scheint, dass auch andere Beweggründe dabei massgebend
sein werden. Haben solche Bradjagen ihren Beruf satt oder zwingen
sie die Unbilden des Winters, so melden sie sich häufig wieder bei
den Gefängnissen. Sie behaupten dann, ihren Namen, ihre Herkunft,
Heimath etc. nicht zu kennen und bilden die „Namenlosen.“
Niemand kennt ihre Vergangenheit, Niemand ihr Verbrechen, aber
alle müssen wieder nach Nertschinsk zurückwandern. So erzählte
man mir von einem alten Kerl,, der als „Namenloser bereits achtzehn
Mal die Reise nach Nertschinsk gemacht hatte. Eine Anzahl
Sträflinge suchen aber auch Stellen und so kann es Vorkommen,
dass man einen Kutscher oder Diener engagirt hat, der ein Mörder
oder notorischer Dieb war. Und dass Viele derselbe ihre alte Natur