jedem Stationszimmer liegt ein Beschwerdebuch aus, welches in
origineller Weise mit einem Siegel gleich auf den Tisch petschirt
ist. Hier kann jeder Reisende berechtigte Klagen eintragen; ich
habe mir aber sagen lassen, dass dies keinen grossen Erfolg hat, da
diese Bücher wol selten an die Vorgesetzte Behörde gelangen. Und
dass die russische Postverwaltung noch nicht ä la Stephan eingerichtet
ist, wird Niemand verlangen, denn bei uns wird kein Post-
Kassencontroleur, dessen Ankunft man schon Tage zuvor genau weiss,
mit einem Balle gefeiert, wie uns dies in Russland erzählt wurde.
Das Reisen ist übrigens nicht so billig, denn wir hatten für die
1667 Werst (circa 238 deutsche Meilen) lange Strecke Nishnej-
Tjumen allein für Pferde und Wagen 659 Rubel (nach damaligem
Course über 1700 M.) bezahlt und dazu kommt noch eine beträchtliche
Summe an Trinkgeldern für die Jemtschiken, an Aufsicht für
den Stärost n. s. w. Die Jemtschiken haben übrigens nichts zu
verlangen, aber man muss sich ihre Gunst immer durch Trinkgelder
erkaufen, denn wenn der Kutscher eben reglementsmässig zu fahren
besteht, wobei er in der Stunde nur 12 Werst, bei schlechtem
Wege sogar nur 8 Werst zurückzulegen braucht, kommt man kaum
schneller als mit der Post bei uns vorwärts. Und trotz den Trinkgeldern
hat man mit den „Kunden,“ wie sich Martin Dserwit auszudrücken
pflegte, seinen steten Aerger, denn sie', sind selten zufrieden,
namentlich längs der grossen Strasse. Hier genügt es
übrigens für die Station jedem Jemtschik, je nach der Entfernung,
15—25 Kopeken zu geben; in Sibirien werden 10—15 als sehr nett
angesehen, und ich erkundigte mich bei gewiegten Reisenden, die
nie mehr als 5 —10 Kopeken bezahlen. Der Postmeister ist übrigens
verpflichtet an jeder Station die genügende Anzahl von Pferden (oft
mehrere Hundert) bereit zu halten, wenigstens unbedingt die für
Couriere erforderlichen, aber bei dem grossen Verkehr der Irbit-
ReisCnden erleidet man indess oft Aufenthalt.
Wir hatten uns übrigens in dieser Hinsicht nicht zu beklagen
und können nur mit dankbarer Anerkennung der Unterstützung gedenken,
welche der „Bremske (nicht Brehm’ske) Expeditie“ Seitens
der Verwaltung und Beamten der freien Post zu Theil wurde.
Von Tjumen an hat man kaum Aufenthalt zu befürchten, denn
bei der geringen Anzahl von Reisenden drängen sich die Bauern
einzüspannen und da sie meist Ueberfluss an Pferden besitzen, kommt
es auf ein paar mehr gar nicht an. Obwol uns für die Folge fast
stets 4 bis 6 Pferde an jeden Wagen gespannt wurden, so hatten
wir doch stets nur für eine Troika, d. h. ein Dreigespann, zu zahlen.
Das Fahrgeld beträgt von Tjumen an nur 1V2 Kopeken pro Werst
und Pferd, aber es muss auf jeder Station ausbezahlt werden, was
immer Aufenthalt verursacht und den Reisenden nöthigt Kleingeld
in Silber und Kupfer mit sich zu führen. Für das Herleihen von
Wagen bleibt der Satz von 4 Kopeken per Werst bestehen, aber
man bedarf noch einer besonderen Podoroschna, für die von Omsk
bis Semipalätinsk 22 Rubel zu entrichten waren. Denn wir
¡kamen jetzt auf die Irtisch-Kosakenlinie und konnten nur auf Grund
eines solchen kaiserlichen Dokuments Pferde verlangen.
Nachdem alle diese Angelegenheiten glücklich geordnet, brachen
wir am Abend (6 Uhr) des 24. April auf, begleitet von den Glückwünschen
unserer neuen Freunde, unter denen ich bald undankbarer
Weise Herrn Hansen zu nennen vergessen hätte, einen liebenswürdigen
Dänen, der das Amt eines Telegraphenbeamten bekleidete.
Er war uns häufig behilflich gewesen und beschäftige sich viel mit
russischer Literatur, aus den er neuere Schriftsteller ins Dänische
übertrug, deren Werke er nicht genug zu rühmen wusste. Namentlich
machte er mich auf: „Kudejar,“ ein historischer Roman von
Kostomaroff, „Oblomow“ von Goutscharoff und „Aus dem todten
Hause“ von Dostojewsky aufmerksam, die ich, da es mir bisher
selbst an Zeit fehlte, der Aufmerksamkeit bestens empfohlen halten
möchte.
Wir hatten jetzt die weiteste Strecke vor uns, denn von Omsk
bis Semipalätinsk werden 760 Werst (circa 109 deutsche Meilen) gerechnet,
die bequem in 3 mal 24 Stunden zu machen sind und zu
denen ein Gouverneur oder anderer hoher Herr manchmal nur
54 Stunden braucht. Aber freilich reist so eine Standesperson ganz
anders als wir es konnten, denn wenn durch die gütige Vorsorge
des Gouverneurs und Obrist Russinoff’s uns auch stets ein Kosak
vorauseilte, so dass an jeder Station Pferde bereitstanden, so waren
unsere Tarantassen eben nicht die besten und auf diese kommt es
ja hauptsächlich an.*) Denn man darf in den Kosakendörfern
(nicht immer einen Schmied erwarten und wenn eine Achse bricht
*) Wie ausgezeichnet dauerhaft solche Wagen sein können beweisst der,
¡welchen A. v. Humboldt auf seiner Sibirischen Reise (allerdings ein Geschenk des
Kaisers) benutzte; er bedurfte bei fast unausgesetztem Gebrauch auf einer Strecke
pon 14500 Werst (über 2000 deutsche Meilen) nur einmal einer Reparatur.
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