nicht verläugnen ist ebenso gewiss, als dass es in den grossen Städten
von allerlei Gesindel wimmelt.
Von der musterhaften Disciplin der Verbrecher wusste man
uns in Tjurnen nicht genug Lobendes zu erzählen. So unter
Anderem, dass als von einem Transporte 400 Sträflinge weggelaufen
waren, der Beamte den Rest von 200 ausschickte um die Entsprungenen
einzufangen, was auch prompt besorgt wurde. Aber es
hat auch nicht an gelegentlichen Revolten gefehlt. So hörte ich
ebenfalls in Tjurnen, dass 1876 die Sträflinge auf der Tura gewaltsam
von der Barsche zu entweichen versuchten und bereits die
Drathgitter vernichtet hatten. Nicht minder verderblich sind die
notorischen Faullenzer und Tagediebe, welche das europäische Russland,
unfreiwillig als „Ansiedler“ (Possjelenjez) nach Sibirien schickt,
und die wir bereits bei Jalutorowsk (p. 44) kennen lernten. Wie
man auch über das Deportationswesen denken mag, Jeder wird darin
übereinstimmen, dass Sibirien durch dasselbe mehr unnütze und gefährliche
Subjecte, als brauchbare zugeführt werden und dass diese,
das sociale Leben schädigenden Elemente, selbstverständlich nicht
zur Hebung des Landes beitragen können. Wie sehr dagegen die
politischen Verbannten, also die Polen, dem Lande zum Segen gereichten,
erwähnte ich bereits, aber auch, dass sie nach der Begnadigung
in grösser Zahl wieder heimkehrten. So hat Sibirien
einen Theil seiner strebsamsten Bewohner wieder verloren, deren
Gesammtzahl überhaupt durch die Deportation nicht so zugenommen
hat, als man erwarten sollte. So wurden im Jahre 1868 allein
104.000 nach Sibirien geschickt und doch lebten nach Kropotkin
(Peterm. 1868 p. 95) schon 1862 im Gouvernement Tobolsk
62,248 Verwiesene, davon fast 2/s Frauen. Albin Kohn nimmt die
Zahl der jährlich verurtheilten und deportirten Gefangenen auf
80.000 bis 100,000 an; uns wurde nur von 12,000 bis 15,000 gesagt.
Dumaschewski, der im „RusSki Mir“ dieselbe Zahl genannt
hatte, berichtigt dieselbe (28. Septbr. 78; vergl. auch Peterm. 1878
p. 474) auf Grund „vollkommen officiell zuverlässiger Angaben.“
Darnach wurden „in der Zeit vom Jahre 1870 bis zum Jahre 1877,
d. h. im Laufe von acht Jahren, auf administrativem Wege im Ganzen
1599 Personen, darunter 1328 kaukasische Bergbewohner, nach
Sibirien verschickt, d. h. weniger als 34 Mann jährlich. Was nun
die Verbannung von Leuten nicht auf die Initiative der Regierung,
sondern in Folge der Urtheile der Gemeinden anbetrifft, so ergiebt
sich, dass von 1870 bis 1876, d. h. in sieben Jahren, 36,165 Mann
(oder ungefähr 5167 Mann jährlich) nach Sibirien verwiesen worden
sind, denen in derselben Periode 27,277 Ehefrauen und Kinder freiwillig
gefolgt waren. Hierbei muss man hinzufügen, dass von der
Gesammtzahl (36,165) der Verbannten — ungefähr die Hälfte in
Folge des unmittelbaren Beschlusses der Gemeinden nach Sibirien
verwiesen werden, die übrigen hingegen werden nach Ablauf der von
ihnen laut gerichtlicher Erkenntnisse in den Arrestanten-Compagnien
und Arbeitshäusern verbrachten Strafzeit nach Sibirien verbannt, als
Leute, die von den Gemeinden nicht wieder aufgenommen werden.“
Obwol durch die Strafe der Deportation die Ehe erlischt, so
dürfen die Frauen ihren Männern folgen und auch sie und die
Kinder werden von der Regierung unentgeltlich transportirt. Die
Reise geht bis Nishnej per Bahn, von da bis Perm per Dampfer,
von hier bis Tjurnen auf Wagen, dann wiederum per Dampfer bis
Tomsk, von hier über Krasnojarsk- nach Irkutsk wieder mit Wagen,
über den Baikal per Dampfer und erst von hier wieder das letzte
Stück Weg bis Nertschinsk zu Fuss zurückgelegt. Im Winter finden
■keine Gefangenen-Transporte statt, sondern dieselben bleiben, wie
wir bei' Tjurnen gesehen haben, in grossen Central-Etappen-Gefäng-
nissen. Dies geschieht nach Albin Kohn aus rein finanziellen
Gründen, denn es sollen mehr als 6 Millionen Rubel dabei gespart
werden. Albin Kohn, der ja aus eigener Erfahrung spricht, unterzieht
das Deportationssystem (Sibirien p. 252—274) einer gründlichen
Kritik und entwirft ein sehr düsteres, schauerliches Bild von
dem Leben in russischen Gefängnissen und während des Transportes.
Darnach sind Spiel- und Saufgelage nichts Seltenes, auch Liebesverhältnisse
werden von den Aufsehern geduldet, ja schon unterwegs
sollen die ledigen Frauenspersonen versteigert werden, Zustände,
die sich hoffentlich seither gebessert haben. „Wer Geld
besitzt, kann sich im Gefängniss Alles erlauben!“ Wenn ich auch
hierüber kein Urtheil habe, so finden sich doch Anklänge dafür
darin, dass der von Anverwandten unterstützte reiche Verbrecher
ganz nach seinem Geschmacke nach Sibirien reisen kann, wenn er
die Kosten trägt und den oder die ihn escortirenden Soldaten
bezahlt. Den politisch Verurtheilten, darunter Leute aus dem
höchsten Adel und angesehensten Ständen war dies nicht gestattet.
Da die Regierung für den Transport der Deportirten dasselbe