Belojarsk am rechten Ufer (27 Werst), wo wir nächtigten um am
anderen Tage (29. Juni), früh 6'/2 Uhr, die Reise fortzusetzen.
War der Ob, mit seinem kahlen linken Steilufer und mit den Weidendickichten
und Baumgruppen des jetzt überflutheten rechten, nichts
weniger als malerisch gewesen, so entschädigte uns die heutige
Tagesfahrt desto mehr. Sie führt bis zum Dorfe Soroka (Sorokina)
am rechten .hohen Sandufer des ansehnlichen Tschumüsch, über
welchen uns ein grösser Prahm brachte, durch eine äusserst liebliche
Gegend, in der herrliche, saftige Wiesen und Niederungen mit Gehölzen
und höheren Baumgruppen, hie und da malerisch von schilfreichen,
mit Nymphaen bedeckten Weihern unterbrochen, abwechseln
und der Landschaft stellenweis durchaus den Character eines vernachlässigten,
grossartigen Parkes verleihen. Dabei sieht man bei
hübschen, reichen Dörfern*) überall Spuren betriebsamer Menschen
und es passirte uns, wol zuerst in Sibirien, dass der Weg streckenweis
beiderseits von Getreidefeldern begrenzt war. Weiterhin leitet
die Strasse über das 1000—1500 F. hohe sogenannte Salair-Ge-
birge, welches fast ununterbrochen die herrlichste „Taiga“ (russ.
„Tschemi“) zeigt. Mit diesem Namen bezeichnet mau „Urwald“,
der aber hier ein durchaus eigenartiges Gepräge trägt oder vielmehr
durch die Eigenart der hiesigen Vegetation erhält. Diese Urwälder
haben nichts von dem Erhabenen der californischen, mit ihren durch-
uehends mehr als 100 Fuss o hohen herrlichen Baiunriesen, aber sie
entzücken durch ihre Lieblichkeit, welche die Ueberfülle ihrer enorm
entwickelten, oft baumartigen Sträucher hervorbringt. „Diese Wälder,“
sagt Teplouchow (Cotta p. 284), „unterscheiden sich auf den ersten
Blick von den europäischen, durch ein dichtes Unterholz, welches
hauptsächlich aus dem Erbsenbaume (Caragana arborescens), der
Heckenkirsche (Lonicera tatarica) und verschiedenen Spiräen- und
Rosenarten besteht.
Dazu kommen an den Waldrändern noch der Faulbaum (Prunus
padus), der Schneeball (Viburnuum opulus), die Vogelbeere (Sorbus
aucuparia), Sambucus racemosa und andere Straucharten hinzu. Es
erinnert ein solcher Wald an einen ausgedehnten Park“, und fügen
wir hinzu, entzückender und schöner in seiner Gesammtheit, als ihn
*) Es dürfte Manchen interessiren, dass ich hier an einzelnen Hausgiebeln
das niedersächsische Wahrzeichen „geschnitzte Pferdeköpfe" bemerkte, z. B. im
Dorfe Milowka.
irgend ein Landschaftsgärtner anzulegen vermöchte. Da wechseln,
unterbrochen von Weiden und fröhlichen Birken, geschlossene Bestände
schlankstämmiger, hoher Silberpappeln mit ernsten Fichten
und Tannen, davor als äusserste Begrenzungslinie die dem Altai
eigentümlichen Erbsenbäume, mit ihren goldigen Traubenblüthen,
Eberesche, Faulbaum; der Boden des Waldes geschmückt mit hohen
Doldengewächsen (Schierling), Huflattich und anderen Blatt- und
Krautpflanzen, Rosen, wildem Hopfen, Rittersporn, Fingerhut und
mächtig entwickelten Farren; alles Blühbare jetzt in vollster Blüthe!
Diese' entzückende Landschaft begleitete uns fast 7 deutsche Meilen
weit, und hie und da liess ein Rundblick von der Höhe (namentlich
bei der Stanzija Lambeiskaja oder Alambai’skii) die enorme Ausdehnung
der Taiga übersehen. Sie bildet zugleich das Revier für den
Holzbedarf der Hüttenwerke, die fast noch ausschliessend mit Holz
und Holzkohlen heizen. Wenn man bedenkt, dass jährlich an
80,000 Kubikfaden Holz und 260,000 Körbe Kohlen (ä 20 Pud)
nothwendig sind, so wird es begreiflich, dass selbst die Ueberfülle
der Taiga dem Menschen weichen musste, der, ohne neu zu culti-
viren, wegschlägt,*) was die durch trockene Winde begünstigten
Waldbrände übrig lassen. Wie wir von Schlangenberg herab zahllosen
Erzkaravanen begegneten, so hatten wir jetzt den langen
Wagenzügen auszuweichen, welche in mächtig hohen Korbgestellen,
Holzkohlen transportirten. Für den Reisenden gestaltet sich diese
Kohlenstrasse wegen der tief ausgefahrenen, ungemein rüttelnden Geleise
und des auf wirbelnden feinen Staubes, der die Gesichter gleich
Negern färbt, nichts weniger als angenehm und führt den enthusias-
mirtesten Naturfreund sehr oft aus dem Reiche der überschwenglichen
Bewunderung in die nackte Wirklichkeit zuruck. Dazu die
Unmasse blutgieriger Altai-Mücken!!! Gegen 9 Uhr Abends langten
wir in Salai'r an und fanden beim Chef der Bergwerke Herrn M.
Nesterowsky gastliche Aufnahme, zugleich auch in seinem Hause
Herrn Dr. Sass uns erwartend. Dieser Herr ist hier als Arzt angestellt,
und wie Dr. von Dumberg ein ausgezeichneter Kenner der
Fauna und Flora. Durch ihn erhielten wir allerlei interessante
*) Wie ich bereits anfährte, lernten wir selbst den Oberforstmeister des Altai
in Smeinogorsk kennen. Ihm sind 1.000,000 Dessjätinen Wald unterstellt, allein
bei dem geringen Hilfspersonal, welches demselben zu Gebote steht, kann von
einer geregelten Forstwirthscbaft als Nachzucht im Altai noch nicht die Bede
sein, sondern nur von Forstnutzung.