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nämlich passiren, dass derartig Verbannte vergessen werden und
daher kein Wunder, wenn Goldmacher je eher je lieber Gewissheit
gehabt hätte. Er lebte freilich für hier in sehr guten Verhältnissen,
besass zwei Häuser, einen kleinen Laden, verdiente schönes
Geld, quälte sich aber auch redlich. Doch schreckte den im Süden
Gebornen natürlich die Aussicht im kalten Norden sein Leben einsam
beschliessen zu müssen, denn er schien kaum älter als etliche
30 Jahre. Als der einzige Bekenner mosaischer Religion konnte er
nicht einmal die Gesetze und Festtage halten, geschweige heirathen
und obwol verwildert im Glauben, war er doch ein zu guter Israelit
um durch Uebertritt seine Lage zu verbessern. Goldmacher sehnte
sich also heim und wollte in Odessa lieber bei trockenem Brod, als
hier in Wohlstand leben. Seine auf mich gesetzten Hoffnungen
musste ich leider von vornherein unbarmherzig zerstören. Vor der
Abreise schwor er mir nämlich beim „ewigen Gott,“ dass er unschuldig
und aus Rache eines Rabbiners in Stambul verbannt worden
sei! Wenn ich an den schlesischen Tischler in Rustschuk, der,
ein Racheopfer eines österreichischen Feldwebels, als angeblich „ungarischer
Flüchtling“ in Ketten nach Bukarest transportirt wurde,
und andere saubere von mir in der Türkei erlebte Geschichten zurückdachte,
dann klang mir die von Goldmacher keineswegs unglaublich.
Aber die naive Bitte, seinen Fall doch in St. Petersburg
dem Herrn Minister oder womöglich Sr. Majestät selbst vorzutragen,
musste ich selbstredend zurück weisen, denn „wos kon ich dobei
mache!“ sagte ich mit Goldmacher. So dürfte er, wie ich fürchte,
noch heut in Obdorsk weilen und wenn er allen Reisenden so behilflich
ist als uns wird ihn Jeder gern wie ich in freundlicher
Erinnerung behalten.
Mit Lebensmitteln würde es ohne Goldmacher’s Hilfe schlecht
ausgesehen haben, denn ausser den landesüblichen lufttrockenen
Fischen kann man um jetzige Jahreszeit nichts in Obdorsk kaufen,
nicht einmal frische Fische und Renthierfleisch. Hühner und
Schweine werden nur wenig von etlichen Privaten gehalten. Kartoffeln
sind nicht zu haben und so war ich wenigstens froh, Eier
(von Tobolsk mitgebracht, das Stück zu 3 Kopeken), Milch und
frische Butter zu erhalten. Das Blöken eines Kalbes führte mich
zufällig in ein Haus und es gelang nach längeren Verhandlungen,
das kaum fünf Tage alte Geschöpf für zwei Rubel, sowie später
noch ein zweites zu erstehen.
F i ix s c h , Reise. I. 3 8