Freudengeschrei erschallt! man sieht das Ren hinter dem Schlitten
angebunden und kaum dreiviertel Stunden später trifft er mit
triumphirender Miene hoch auf dem Schlitten stehend wieder im
Lager ein. Natürlich mussten wir noch ein paar Stunden liegen
bleiben um den erschöpften Renthieren Ruhe zu gönnen. Die
Freude über den verlorenen Sohn dauerte übrigens nicht lange,
denn kaum waren wir aufgebrochen und ein paar hundert Schritt
gezogen als sich ein Ren hinlegte, wie sie dies nicht selten zu thun
pflegen. Die Symptome schienen nicht die der Seuche und auch
der Rath der Kundigen erklärte sich dafür und schritt sofprt zur
Diagnose durch Operationen, die ein Mitglied des „deutschen Reichsbundes
zum Schutze der Thiere“ mit Entsetzen erfüllen musste.
Man schnitt dem Thiere nämlich das halbe Ohr weg und war allgemein
befriedigt als Blut floss, denn dann konnte es nicht die
Seuche sein. Aber der Zustand des Thieres änderte sich nicht, es
lief zwar wiederum eine kurze Strecke, fiel aber bald wieder zusammen,
ebenso als man ihm das zweite Ohr, dann die Schwanzspitze
und beide Gabelsprossen des Geweihes abgeschnitten. So
schritt man denn zur letzten barbarischen Operation; die noch
nicht ganz erhärteten Geweihe wurden in der Mitte mit dem Messer
eingekerbt, und dann gewaltsam abgebrochen, indem Einer den Fuss
an die Geweihbasis stemmte. Wiederum floss Blut, aber demohn-
erachtet mussten wir das Thier aufgeben und Alle stimmten überein,
dass es dennoch der Seuche erlegen sei. Um den übrig bleibenden
ohnehin sehr ermatteten Rest unserer „Heerde“ nicht vollends aufzureiben,
liess ich die Leute einen Theil des Gepäcks wieder aufnehmen
und hing mir selbst den Reisesack wieder auf, um, würdig
eines Nadschalnik, selbst mit gutem Beispiel voran zu gehen.
Schon am Morgen des 1. August hatten wir den kleinen Fluss
Jensor-jaha (oder Nensor-jaha, d. h. weisser Fluss) überschritten und
lagerten am Mittag des zweiten unweit eines schönen blauen, wie
immer namenlosen Sees, bei einem zu Eis verhärteten Schneefelde,
weil dieses den Renthieren willkommene Erquickung bot, da sie
fast mehr als der Mensch empfindlich gegen die Mücken sind und
am Fressen gehindert, nach und nach gänzlich ermatten. Eine von
Mücken und Bremsen umschwärmte Heerde gewährt daher einen
gar traurigen Anblick. Dicht zusammengedrängt, mit gesenktem
Haupte bleiben die Thiere in fast ununterbrochenem Schütteln und
suchen, durch Kratzen mit Geweih und Hinterläufen, die eierlegenden
Bremsen abzuwehren, die im Verein mit Mücken oft ganze
Heerden auseinander zu sprengen im Stande sind (Schrenk I. p. 530).
Wie die Renthiere hei herrschendem Winde am liebsten gegen denselben
gehen, so pflegen sie die am meisten exponirten Nüstern
gern im Schnee zu verbergen. Hier lagen sie nun behaglich ausgestreckt,
ein Anblick, der uns innig erfreute, denn ihr Wohlbefinden
nahm unser höchstes Interesse in Anspruch. Da ich die
ganze Zeit nicht ordentlich zum Schlafe gekommen war, folgte ich
ihrem Beispiel und blieb mit Dr. Brehm, Martin Dserwit und zwei
Leuten an unserem Lagerplatze zurück, während Graf Waldburg
mit den Uebrigen vorausging. Nach kaum zweistündigem, auch
unter dem Zelte durch Mücken beeinträchtigten Schlafe folgten wir,
langsam über die Tundra schleichend, den Uebrigen, deren Fuss-
stapfen keine Spuren zurückgelassen hatten. Wir passirten die
kleinen Bäche resp. Flüsse Tojaha (d. h. Seefluss) und Nadajaha
(d. h. bemooster Fluss) und genossen von der Uferhöhe des letzteren
aus einen weiten Fernblick. Vor uns lag sanft ansteigend eine
weite Tundrafläche, die links von einem höheren Gürtel mit hellleuchtenden
Sandufern begrenzt wurde, dahinter erhob sich in malerischen,
obwol nicht imposanten Formen der Ural, dessen zartes
Blau hier und da von weissen Schneefeldern gescheckt erschien.
Die Benennung „Ural“ *) für dieses schöne' Gebirge ist hier nicht
bekannt; es wird allgemein als „Pojassowei-Kamen“, d. h. Gürtelstein
oder Steingürtel, oder ganz einfach Kamen, d. h. Stein genannt,
oder auch wol als „grosse Steine“ bezeichnet, denn so lautet die
Uebersetzung von „Bolschoi Kamene“ der Russen, „Udschid Is“ der
Syrjänen, „Arka-pai“ der Samojeden und „Kä-u“ der Ostiaken.
Rechts erblickte man nur Niederung, Tundra mit Seen und Sümpfen,
die am Horizont wie in einer grossen Wasserfläche, der Karabai, zu
verschwimmen schien. Die hellen Sandufer bezeichnete Haiwai als
die der Podarata, aber sie schienen noch sehr weit entfernt und
wir werden sie morgen wol erst spät erreichen. Eine auf der
Tundrenhöhe aufwirbelnde Rauchsäule spornte zu neuem Eifer an:
sie rührte von den Unseren her und zeigte uns den Weg. Nach etwa
zwei Stunden, etwa Abends 8 Uhr, langten wir bei ihnen an. Das
Lager war am hohen Uferrande eines schnellfliessenden klaren Flusses
aufgeschlagen, ich frug hastig nach seinem Namen und „Podarata“
*) Ueber die Etymologie vergl. Humboldt: Eose’s Eeise II. p .440.