Ueber Tundra.
keit der Keime desselben soll so enorm sein, dass sie nicht einmal
langandauerndes Eintrocknen zu zerstören vermag und dass sie selbst
in diesem Zustande, durch einen Zufall mittelst Wunden und dergleichen
in die Blutbahn gebracht, sofort aufs Neue ihre zerstörende
Wirkung beginnen. Dagegen sollen sie in die Verdauungsorgane
eingeführt ansteckungslos sein. Beides widerspricht eben so sehr
unseren Erfahrungen, wie die Annahme, dass hauptsächlich Fliegen
und Mücken die Träger des Ansteckungsstofles seien. Denn wären
diese Erklärungen richtig, so würde eben kein einziges lebendes
Wesen auf der Tundra existiren können. Wir selbst, die wir doch
unausgesetzt in einer Atmosphäre lebten, die von Sporenmassen des
Bacillus anthracis erfüllt sein musste, die täglich von Hunderten von
Mücken gestochen wurden, welche unmittelbar von milzkranken Ren-
thieren auf uns und unsere eiternden Mückenstiche übergingen, wären
ja sämmtlich unrettbar verloren gewesen. Und dass Menschen am
Genuss vom Fleische milzkranker Renthiere sterben weiss jetzt fast
jeder. auf der Tundra, wie wir dies als Thatsache nur bestätigen
können..
Jedenfalls liegen also andere, wenigstens für das Ren, noch unaufgeklärte
Ursachen zu Grunde, dafür spricht das unerwartete
periodische Auftreten der Seuche, wie ihr verhältnissmässig neues
Erscheinen, soweit es die von uns besuchten Gebiete Nordwest-
Sibiriens betrifft. Nach den Aussagen des Fürsten von Obdorsk trat
die Seuche im Obgebiet nämlich zuerst vor etwa zwanzig Jahren
auf und soll durch Heerden der Syrjänen, von denen nach ostiakischen
Begriffen ja nur Uebles kommen kann, jenseits des Ural eingeschleppt
worden sein. Und dies ist insofern richtig als nach Schrenk (I.
p. 128, II. p. 382) die Seuche im Archangelschen Gouvernement
zuerst 1831—1833 auftrat und damals das ganze Kleinland fast ren-
thierlos machte. Nach Hofmann verbreitete sieh die Seuche erst
1848 nach Sibirien und es fielen ihr damals 40,000 Stück zum
Opfer (Reise p. 160), aber Middendorf gedenkt ihrer bereits
1843 vom Jenissei und aus dem Taimyrlande (p. 1446, 1456).
Damals kannten Ostiaken und Samojeden noch nicht, wie leicht
sich die Seuche auch auf Menschen überträgt, und viele von ihnen
starben an dem Genüsse gefallener Thiere. Nach Sidoroff raffte
1865 die Seuche zwischen Petschora, Ob und Jenissei hundertfünfzigtausend!
Renthiere dahin, und der Fürst gab mir den Verlust im
Jahre 1856 im Obdorskischen Kreise auf 10,000 an, darunter allein
F i n s c l i , Reise. I. o §