Mücken die ersehnte Ruhe und Rast in der empfindlichsten Weise
unterbrechen, erklärlich, dass das Durchwandern einer Strecke von
zwanzig, vier und zwanzig Werst oder Kilometer unter solchen
Umständen als eine Tagereise angesehen werden muss, welche die
volle Kraft und Ausdauer eines geübten Fussgängers in Anspruch
nimmt.
Gäbe es zur Sommerszeit keine Mücken in der Tundra, man
würde sich aussöhnen mit ihrer Eintönigkeit, würde alle Hemmnisse,
welche sie in den Weg legt, unentkräftet überwinden, alle
Beschwerden und Entbehrungen, welche sie auf bürdet, ertragen und
auch ihrer freundlich sich erinnern; die Mücken aber verleiden
einem Jeden, welcher die Tundra betritt, sie selbst, wenn nicht für
alle, so doch gewiss für lange Zeit.“
Obwol die noch immer tageshellen Nächte wegen Kühle und
der daraus resultirenden Mückenlosigkeit am besten zum Marschiren
waren, so mussten wir sie doch zur Ruhe benutzen und zwar der
Renthiere halber, nach deren Wohlbefinden wir uns ja jetzt zu
richten hatten. Geplagt von Mücken und Renthierbremsen verschmähten
sie es am Tage zu fressen, sondern thaten dies fast nur
Nachts, besonders in den ersten Morgenstunden wenn Thau die
Erde bedeckte.
Uebrigens bietet die Tundra keineswegs allenthalben die mit
der Renthierflechte (Cladonia rangiferina*) und deren Varietäten)
bestandenen geeigneten Weideplätze und so mussten wir auch nach
diesen unser Lager einrichten. Dasselbe bestand übrigens nur
darin, dass abgekocht wurde und sich dann Jeder in seinen Pelz
gehüllt auf die blosse Erde legte, wobei die melancholischen Kirchenlieder
unseres Feödor, mit ihrem nie enden wollenden: „Gospodin!
gospodin! pomilu! (Herr! Herr! erbarme Dich unser!) als Schlummergesänge
dienen sollten.
So sehr uns diese Gesänge auch langweilten, Feödor hielt sich
nicht allein seihst für einen Solisten erster Grösse, sondern wurde
auch von den Uebrigen als solcher anerkannt und so würde ein
Verbot die Leute nur unmuthig gemacht haben.
*) Ich sammelte mit etlichen Griffen nicht weniger als 9 Arten nnd 11 Varietäten;
vergl. „Lichenes Finschiani. Enumeratio Lichenum a cl. Dr. Pinsch in
regione Tnndrae Sibiriae septr.-occidentalis lectorum, anctore Müller Arg. (Moskau
1878).
Die Einförmigkeit der Landschaft gewann durch den Anblick
des Ural ein freundlicheres Bild, im Uebrigen schritten wir unverdrossen
voran, geführt vom alten Dschunschi, dessen ganze Ausrüstung
in einem Beile bestand und der es uns, trotz seiner Jahre
und des geschwächten Beines, zuvor that. Dafür war er aber auch
auf der Tundra gross und alt geworden und kannte nur sie.
Wie man am besten thut auf schwierigen Gehirgspfaden ein
Kirghisenpferd gewähren zu lassen, so durften wir uns auch auf
Dschunschi ganz verlassen, der übrigens bei jedem Halt erst mit
Haiwai die einzuschlagende Richtung berieth, die so gut als nach
dem Compass dann eingehalten wurde. Welches Leben und Feuer
in den alten Burschen kommen konnte zeigte sich bei besonderen
Gelegenheiten, so am 1. August. Wir lagerten und die Renthiere
weideten, an langen Stöcken befestigt, denn sonst würden sie schon
längst zu ihrer Heerde zurückgelaufen sein, was sie sehr gern thun
und die sie selbst auf mehrere -Meilen, stets wiederzufinden pflegen.
Ich selbst hatte mich etwas unter das Mückenzelt gelegt und war,
nachdem ich eine Anzahl der reizend aussehenden Renthierbremsen
(Hypoderma tarandi *) L.) gefangen, eben eingeschlummert, als ich
bei meinem leisen Schlafe durch Sprechen gestört wurde. Das
musste etwas zu bedeuten haben! ich sprang also auf und ein
Blick zeigte mir," dass eins der Renthiere, von denen wir ohnehin
nur noch 7 besassen, das Weite gesucht hatte. Es war schon weit,
weit entfernt, dennoch erbot sich der Alte es einzufangen. Im
Nu hatte er eine Troika eingespannt und fuhr nun dem Ausreisser
nach. Ich hielt sein Beginnen für aussichtslos, überzeugte mich
aber bald wie geschickt der Alte alle Terrainvortheile zu benutzen
wusste. Aber der Vorsprüng des Renthieres war zu gross; schon
näherte es sich dem Höhenzuge, erreichte den Rücken desselben
nnd verschwand hinter demselben. Bald darauf Dschunschi ebenfalls.
Jetzt zeigt sich das Ren wieder; Dschunschi hat es also
offenbar überholt und bemüht sich dasselbe uns zuzutreiben. Aber
wiederum verschwindet es hinter der Hügelreihe, gefolgt vom Alten.
Erwartungsvoll spähen wir mit dem Glase, denn nur mit Hilfe desselben
lässt sich die Scene überhaupt verfolgen; 5, 10, 15 Minuten
verstreichen, da erscheint die Troika des Alten wiederum; ein
H»
*) Nach Herrn von Eödern in Hoyra, der meine heimgebrachten Diptern
gütigst bestimmte ist, die Art Sibirien eigenthümlieh.