Deutschsprechender darunter? fragen wir und auf einen Namensruf
des Ispravnik tritt sogleich ein bleicher, kaum etliche zwanzig Jahre
alter Mann vor. "Woher sind Sie? Aus lievul. lautete die Antwort.
Was äst ihr Geschäft? Zimmermann! Welche Strafe haben Sie ab-
zubüssen? — 15 J a h r e Zwangsarbeit in Nertschinsk! — Und wegen
welches Verbrechens? — Wegen Verdacht (?) des Mordes, Euer Hochwohlgeboren!
Der Ispravnik liess auch einen alten Sünder vortreten
und den Aermel des linken Armes aufstreifen, auf welchen
der Buchstabe B nicht eingebrannt, sondern tätowirt war. Mit
diesem Buchstaben wurden bis zum Jahre 1858 die deportiften
Vagabunden (Bradjagen) gekennzeichnet, dagegen Mörder und Räuber
auf der Stirn und beiden Wangen mit den Buchstaben K. T. (Ka-
torschnik, Zwangsarbeiter). Im vorigen Jahrhundert schlitzte man
zu Zwangsarbeiten verurtheilten Verbrechern die Nasenflügel auf,
und Gmelin erwähnt 1736, dass unter 25 Kutschern, mit denen er
von Ilimsk abreiste, nur vier ganze Nasen hatten.
Einen peinlichen Eindruck machten einige hübsche Knaben,
welche neben ihren Vätern mit in Reih und Glied standen, denen
sie in die Verbannung folgten. Die Erzählungen und Eindrücke,
welche so jugendliche Seelen in diesen Kreisen hören und- geniesseh,
müssen nothwendiger Weist? so verderblich sein, dass selbst der Schulunterricht,
welchen sie während ihres Aufenthaltes im Tjumener
Gefängniss erhalten, kaum genügenden Wiederstand dagegen zu
leisten im Stande ist. Die Sträflinge sind übrigens, was für so
viele Wintermonate verderblich erscheint, nicht zur Arbeit gehalten.
Doch sieht man immerhin eine ziemliche Anzahl als Schuhmacher
und mit anderen nützlichen Dingen freiwillig beschäftigt. Einer
hatte, sehr zierlich und nett, eine Kirche aus-Holz geschnitzt und
war eben dabei kleine Figuren, welche eine Procession darstellen
sollten, aus Brot zurecht zu formen. Ich kaufte einen aus Holz
geschnittenen, mit Kupfer ausgelegten Pfeifenkopf für 25 Kopeken.
In der Judenabtheilung fanden wir viel Deutsch sprechende Leute,
und meist zur Ansiedelung Verurtheilte. Unter Letzteren lernte ich
einen Juden kennen, der auf sehr eigenthümliche Art für mehrere
Jahre nach Sibirien verbannt wurde. Nach „seiner“ Erzählung war
er Soldat gewesen, hatte als solcher einmal Urlaub bekommen, denselben
aber überschreiten müssen, weil er einen Eisenbahnzug versäumte,
und wurde in Folge dessen als Deserteur behandelt. Die
Säle enthalten in der Mitte einen langen, sehr breiten Tisch,, der
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als gemeinschaftliche Pritsche zum Schlafen dient, was für die mit
ihren Weibern zusammen eingesperrten Sträflinge mohamedanischen
Bekenntnisses gewiss sehr hart sein muss. Für Frauen gab es ein
eigenes Gebäude. Wir trafen hier in einem besonders verwahrten
Gemach 6 Frauen, die zum Theil jung, ganz leidlich und zufrieden
aussahen: es waren sämmtlich Gattenmörderinnen. Aber sie werden
in Transbaikalien vielleicht ihr Glück machen und sich womöglich
wieder verheirathen! So erzählte mir ein Herr, der Ostsibirien gut
¡k e n n t , dass er einmal dort mit einer Bauersfrau zusammentraf, die
über den plötzlichen Tod ihres Mannes untröstlich war: denn es
sei schon ihr zweiter, den sie zu beklagen habe. Auf die theil-
nehmende Frage, wie sie den Ersten verloren habe, antwortete die
geprüfte Frau: „Eben so schnell als diesen, aber ich brachte ihn
selbst um!‘‘ —
Ueber das Deportationswesen wussten der Ispravnik und alle
Tjumener, mit denen wir darüber sprachen, nicht Worte des Lobes
¡genug zu finden. Schon gleichsam das Betreten Sibiriens mache
aus allen Verbrechern ausgezeichnete Kerls; Diebstahl, Mord und
Todtschlag komme,! s0 hiess es, kanm mehr vor und man konnte
Russland um eine so ausgezeichnete Besserungsanstalt, wie Sibirien,
in der ja die Fülle unserer Zuchthäuser noch leicht Platz finden
könnte, förmlich beneiden. Aber wir lernten später auch die
Schattenseiten eines Systemes kennen, welches neben vielem Guten
auch viel, ich möchte sagen überwiegend Schlechtes mit sich bringt
und welches ein zukunftsreiches Land, wie Sibirien, social schwer
schädigt. Doch ich werde noch auf dieses Kapitel zurückzukommen
haben. Hier nur noch soviel, dass wir den Eindruck empfingen,
der Ispravnik sorge nach besten Kräften, wie für den ganzen Kreis,
so auch für diese Leute, denen er jeden Tag und in jedem Saale
einen Besuch abstattet, um etwaige Klagen und Wünsche persönlich
entgegen zu nehmen. Bei dem Umfange eines Kreises, wie den
Tjumen’schen und der nicht minderen Arbeitslast, welchen die De-
portirten machen, verdient dies hohe Anerkennung, da dem Ispravnik
nur 4 Stanowois, 4 Kosaken und 30 Soldaten als Hilfspersonal zur
[Verfügung stehen.
Hatten wir im Gefängniss menschliches Elend gesehen, so trat
[uns in dem Waisenhause, welches wir danach besuchten, echte
[Menschenliebe entgegen. Das gut eingerichtete Haus gewährt einer
[grossen Anzahl elternloser Kinder, beiderlei Geschlechts, meist