nicht nur des Genusses, der in solcher Selbstgenugthuung liegt,
beraubt, sondern sich auch für alle spätere Zeit seines Lebens den
Peinigungen reuiger Gewissensbisse *) hingegeben, die zwar mitunter
durch geräuschvolle Lebensereignisse unterdrückt werden
können, aber dann immer gerade in solchen stillen Augenblicken
der (Jedem möglicherweise bevorstehenden) Krankheit oder des
Elendes, wo sie am quälendsten sind, wieder hervorbrechen.
Und alles dieses für die vorübergehende Lust sinnlicher Befriedigungen,
die, wenn überhaupt im verwickelten Gange menschlicher
Geschicke zu erhaschen, für ihre mehr als momentane
Dauer nicht die geringste Garantie geben können.
Der Gewohnheitsverbrecher wird die Erinnerung an ein
Capital-Verbrechen mühelos abschiitteln und völlig ftihllos sein
für den Stachel kleinerer Vergehen, die einen sensitiver Organi-
sirten **) bis an sein Lebensende martern mögen. Eine Vergleichung
zwischen den hier zugefügten Strafen ist eben so wenig
zu ziehen, wie zwischen den Freuden, für die der Eine oder der
Andere empfänglich ist, und die Beide mit durchaus verschiedenem
Maassstabe messen. In ihrem eigenen Existenzkreis genommen,
mag die rohe Natur eine relativ glücklichere erscheinen,
während sie auf der Scala der Veredlung eine tiefere Stufe
*) Der (religiöse) Mensch im Sinne des Christenthums ist (nach Lang) derjenige,
welcher den Geist als das Göttliche, als sein wahres Wesen erkannt hat
und darum seine sittliche Aufgabe darin sucht, dieses geistigen, unendlichen Gehaltes
seiner Persönlichkeit durch Befreiung desselben aus den trübenden Umhüllungen
der Sinnlichkeit und Natürlichkeit, also durch Selbstverleugnung, Busse
und Wiedergeburt habhaft zu werden; es ist derjenige, dem es vor Allem darum
zu thun i s t , seine Seele zu re tten , der diesen Gewinn für höher und wichtiger
ansieht, als den Gewinn der ganzen Welt ausser ihm, der darum Alles, was weltlich,
zeitlich und irdisch ist, die Schicksale seines Lebens, die Güter und Leiden
der Erde nur auf dasjenige ansieht, was sie ihm als Mittel für die Erfüllung seiner
höchsten menschlichen Aufgabe leisten können, dem daher als einem Gottliebenden
Alles zum Guten ansschlagen muss.
**) „Ein grösser Kopf hat grosse Sorgen,“ wie das gagataiische Sprichwort
sagt (s. Vambery). .
einnimmt, von der aus sie noch zu den höheren aufsteigen und also
mit zunehmender Empfänglichkeit auch alle die dort fühlbar werdenden
Schmerzen*) zu erdulden hat. Je heftiger und reissender
sie wühlen, desto näher steht das heiss ersehnte Ende. — Die ge-
sundheitsmässige Entwicklung des Normalmenschen führt im
Einklang mit den allgemeinen Gesetzen zum Guten und Schönen,
in der vollendeten Reife des Wachsthums, nicht also, wie
Shaftesbury meint, weil die Triebe selbst gut**) seien, da diese
vielmehr, im Gegensatz des Unvollkommenen zum Vollkommenen,
als böse aufzufassen sein würden. Der Entwicklungsgang, den
der menschliche Geist in den verschiedenen Culturkreisen genommen,
wird uns das Richtige lehren, nicht als subjectiv beliebte
Ansicht, sondern als nothwendiges Resultat eines Calculs,
das (nach J. Bernouilli’s Auffassung) die Kenntniss als Grösse setzt,
die Gewissheit als das Ganze dieser Grösse und die Wahrscheinlichkeit
als Bruchtheil. Wie die Constanten astronomischer Formeln
müssen die numerischen Werthe der Rechnungsmethoden
den Beobachtungen entnommen werden, und setzen also eine
bestimmte Masse angesammelter Materialien in der Psychologie
voraus, wie sie nur die ethnologischen Thatsachen zu liefern vermögen.
In einer Zeit, wo wir den Durchschnittsmenschen als
Maassstab nehmen, bedürfen wir einer Methode, gleich der Theorie
des probabilités, qui n’est au fond que le bon sens réduit au
calcul, und in allen Inductionswissenschaften,***) in der Pflanzen-
*) Wachsen, sich entwickeln, körperlich und geistig, heisst: leiden, denn es
setzt ein Ahwerfen von verbrauchten Stoffen voraus, die bisher einen Bestandtheil
des Körpers oder des Geistes ausgemacht haben, und dies ist immer mit Schmerz
verbunden. Die geistige Entwicklung setzt ein Bekämpfen und Wegwerfen von
Leidenschaften oder Yorurtheilen voraus, jeder Kampf aber ist ein Leiden (Lang).
**) Wie Rousseau ging die Schule der Humanisten oder Philanthropisten von
der natürlichen Güte des Menschen aus. ’AXÄa firjv dyad'oi y s xa l onovSaïoi
yrjvovrat Sia rçicov3 rà r ç ia Se r a v ta è a ti tpvots, e-fros, Âoyos (Aristoteles).
***) In kritischer Sichtung führt die Induction zu den Naturgesetzen.
J. Herschel vergleicht den Sprung von hoher Wahrscheinlichkeit zur bestimmten
B a s tia n , Reise VI. E