Capitel IV.
Das Eingeweidenervensystem.
Da über das Eingeweidenervensystem der Chilopoden so g u t wie nichts bekannt is t, und selbst
N e w p o r t , der das Nervensystem derselben äusserst genau untersucht h a t, nichts von einem solchen
erwähnt, so habe ich mein besonderes Augenmerk auf diesen Punkt gerichtet, um zu constatiren, ob ein
solches überhaupt existirt, und ob es irgendwelche Aehnlichkeit mit dem der Insecten darbietet.
Ich werde mich bei der Darstellung meiner Befunde nur auf die grobe Anatomie beschränken.
Was zunächst das Eingeweidenervensystem von Scutigera anbetrifft, so findet man bei dieser Form in dem
Raume, welcher von dem oberen Schlundganglion, den Schlundcommissuren und dem Vorderdarm begrenzt
wird, ein Ganglion, welches ungefähr die Gestalt einer Keule besitzt (Taf. IV, Fig. 24, und Taf. V,
Fig. 37 ueg), und zwar ist letztere so orientirt, dass ihr verschmälertes Ende nach oben gerichtet ist.
Die Verbindung dieses Ganglions mit dem Gehirn wird durch zwei Commissuren (Taf. V, Fig. 37) bewerkstelligt,
welche von seinem unteren Ende ausgehen, anfangs nach unten verlaufen, sich dann etwas nach
den Seiten und nach oben wenden und schliesslich an der Ursprungsstelle der Schlundcommissuren mit
dem oberen Schlundganglion in Verbindung treten. Nahe an der Vereinigungsstelle der beiden Commissuren
des Eingeweideganglions mit dem Gehirn zweigt sich von jeder ein dünner Nerv ab (Taf. V,
Fig. 37 obn), welcher die Oberlippe und den merkwürdigen wulstigen Gewebecoraplex innervirt, der bereits
im Capitel über die Kopfdrüsen erwähnt wurde.
Von dem Eingeweideganglion — das wir in Anlehnung an die Nomenclatur bei den Insecten
.Ganglion frontale1- nennen wollen — g e h t nach oben ein Nerv (Taf. IV, Fig. 24 spn) ab, der am Oesophagus
emporläuft und da, wo letzterer nach hinten umbiegt, noch einmal zu einem kleinen Ganglion
anschwillt. Von dieser Anschwellung sah ich zwei Nerven zu den Ausdehnungsmuskeln des Schlundes
wehen. In seinem weiteren Verlauf kommt der Eingeweidenerv, den wir .Nervus recurrens“ nennen können,
zwischen die Riugmusculatur und das Epithel der Speiseröhre zu liegen. Da zwischen diesen beiden
Schichten gewöhnlich noch Fettgewebe und auch einzelne Längsmuskelbündel anzutreffen sind, so ist es
mit grossen Schwierigkeiten verbunden, den Nerv weiter nach hinten zu verfolgen.
Im Gegensatz zu Scutigera weist Scolopendra kein gesondertes Eingeweideganglion auf. Ein
Nervus recurrens ist zwar auch hier vorhanden, derselbe entspringt aber von einer Brücke, welche auf
der Unterseite, in der Nähe der Abgangsstelle der beiden Scblundcommissuren, die beiden Hemisphären
des oberen Schlundganglions unter einander in Verbindung setzt und mit einem Belag von Ganglienzellen
versehen ist (Taf. V, Fig. 36 vch). Rechts und links von dieser Commissur entsendet das Gehirn zur
Oberlippe einen dünnen Nervenstamm (Taf. V, Fig. 36 obn). Es wurde bereits bei dem Gefässsystem
erwähnt, dass durch die Höhle, welche durch obige Verbindungsbrücke im oberen Schlundganglion entsteht,
die Aorta cephalica und einige Muskelzüge hindurchtreten (Taf. V, Fig. 36 ac).
Zu dem Eingeweidenerv zurückkehrend, sei erwähnt, dass derselbe gleich nach seinem Herantritt
an die Speiseröhre ebenso wie der betreffende Nerv bei Scutigera zu einem Ganglion anschwillt und dann
immer zwischen Ringmusculatur und Epithel der Speiseröhre nach hinten verläuft.
Genau so wie Scolopendra verhalten sich nach meinen Befunden bei Opisthemega erythrocephalus,
Lithobius und Henicops. Von den Geophiliden habe ich eine nicht näher bestimmte Geophilus-Art untersucht.
Dieselbe lehnt sich auch direct an Scolopendra an , unterscheidet sich von ihr aber dadurch, dass
die oben beschriebene ventrale Commissur derart mit der übrigen Gehirnmasse verschmolzen is t, dass die
Gehirnhöhle, durch welche bei Scolopendra die Aorta cephalica fliesst, bis auf ein kleines Rudiment an
der Hinterseite des oberen Schlundganglions verschwunden ist. Der Nervus recurrens nimmt in Folge
dessen seinen Ursprung direct vom oberen Schlundganglion.
Vergleichen wir nun einmal die Befunde bei Scolopendra und den übrigen Chilopoden mit denen,
die wir bei Scutigera gemacht haben! Die Figuren 36 und 37 werden uns hierbei gute Dienste leisten.
Aus einer genauen Betrachtung derselben geht nämlich auf das deutlichste hervor, dass das unpaare
Eingeweideganglion oder Ganglion frontale bei Scutigera der ventralen Verbindungsbrücke zwischen den
beiden Gehirnhemisphären von Scolopendra etc. entspricht (Taf. V, Fig. 36 vch =4* ueg Fig. 37).
Denkt man sich die ventrale Gehirncommissur (Taf. V, Fig. 36 vch) von Scolopendra etwas nach
unten ausgezogen, so würde das entstandene Bild mit Fig. 37 eine grosse Aehnlichkeit bekommen. Die
Mitte der ventralen Gehirncommissur würde zum unpaaren Eingeweideganglion (Taf. V, Fig. 37 ne«1),
während ihre Seitentheile die Commissuren bilden würden, welche dasselbe mit dem Gehirn verbinden.
Die beiden Oberlippennerven kämen auf diese Weise auf die Anfangstheile der beiden Commissuren zu
liegen, genau wie dies bei Scutigera der Fall ist.
Die F rag e , welches Verhalten das ursprünglichere sei, ob das von Scutigera oder das von Scolopendra
und der übrigen Chilopoden, lässt sich natürlich nicht mit Bestimmtheit entscheiden. Wenn man
nach dem Grad der Differenzirung gehen will, so müsste man das Eingeweidenervensystem von Scutigera
für das abgeleitete und das von Lithobius resp. Scolopendra für das ursprüngliche erklären. Es wäre
danach das Ganglion frontale mit seinen beiden Commissuren auf eine Commissur zurückzuführen, welche
ursprünglich die beiden Seitentheile des Gehirns nahe an der Ursprungsstätte der beiden Schlundcommissuren
auf der ventralen Seite in Verbindung setzte.
Vergleicht man jedoch das Eingeweidenervensystem von Scutigera mit dem von Peripatus capensis,
so kommt man zu einem anderen Resultate. Nach B a l f o u r 1) entspringen nämlich von der hinteren
Ventralseite des oberen Schlundganglions dieser Form zwei Nervenstämme, welche an den Pharynx herantreten
und sich dann zu einem Stamme vereinigen, der auf der Dorsalseite des Oesophagus nach hinten
verläuft. Die Ursprungsstelle der beiden Nerven stimmt ganz mit der der beiden Commissuren überein,
welche bei Scutigera das unpaare Eingeweideganglion mit der Ventralseite des oberen Schlundganglions
verbinden. Es is t dies leicht aus der Fig. 11, Taf. XVI, und Fig. 22, Taf. XVIII, von B a l f o u r zu ersehen.
Ausserdem ist die Lage des vereinigten Nervenstammes bei Peripatus genau dieselbe wie die des
nervus recurrens der Chilopoden. Derselbe verläuft nämlich — wie dies aus der B a l f o u r ’schen Fig. 16
ersichtlich ist — zwischen Epithel und Ringmusculatur der Speiseröhre. Leider erwähnt B a l f o u r nicht
ob sich an der Vereinigungsstelle der beiden Nerven zu einem Stamme ein Ganglion (gleich dem unpaaren
Eingeweideganglion [ueg Fig. 37] von Scutigera) vorfindet. Wäre dies der Fall, so würde die Ueber-
einstimmung der Eingeweidenervensysteme von Peripatus und Scutigera eine vollkommene sein. Wenn
nun Peripatus wirklich ein Vorfahre der Chilopoden ist, so würde danach das Eingeweidenervensystem
von Scutigera das ursprünglichere, das der übrigen Chilopoden dagegen das abgeleitete Verhalten
repräsentiren.