Das Blut gelangt aus der Pericardialhöhle wie bei den anderen Tracheaten durch die sog.
Ostien in das Herz. Der Bau derselben ist verschieden. In der dorsalen Mittellinie des Herzens habe
ich bei allen Formen, die ich der Untersuchung unterzogen habe, einen Nervenstamm constatiren können.
Im Kieferfusssegment entsendet das Rückengefäss ein Paar dickere Seitenäste, welche an der
Ventralseite in ein Gefäss einmünden, das über dem Bauchmark nach hinten verläuft und deshalb
Supraneuralgefäss genannt worden ist. Letzteres entsendet über jedem Ganglion Seitenzweige, deren
Zahl und Anordnung verschieden is t, von denen aber immer einer in das Beinpaar des betreffenden
Segmentes verläuft. Diese Beinarterien geben bei den Formen, die Coxal- oder Pleuraldrüsen aufweisen,
Secundärzweigen den Ursprung, welche sich in eine grössere oder kleinere Anzahl von Gefässen theilen.
Letztere verlaufen dann, durch Bindegewebe zu einem Bündel vereinigt, zu den Drüsen des betreffenden
Segmentes. Diese Verhältnisse sind am besten bei den Pleuraldriisen von Scolopendra ausgebildet.
Schon aus vorstehender kleinen Skizze ist ersichtlich, dass die Chilopoden ein ziemlich entwickeltes
Gefässsystem besitzen, wie man es nach der herkömmlichen Ansicht nicht bei Tracheaten
erwarten sollte. Sucht man sich doch allgemein den Mangel der letzteren an Blutgefässen dadurch
erklärlich zu machen, dass bei ihnen nicht das Blut die Athmungsorgane, sondern die letzteren das
erstere aufsuchen, und dass deshalb ein reich verzweigtes Blutgefässsystem unnöthig sei. Besässe von
den Chilopoden nur Scutigera, deren Athmungsorgane bekanntlich localisirt sind, ein derartig entwickeltes
Gefässsystem, wie es in den vorstehenden Abschnitten beschrieben ist , so würde diese Thatsache vollkommen
mit obigem Correlationsverhältniss übereinstimmen. Wir haben jedoch gesehen, dass sich ein
ebenso sehr, ja vielleicht noch mehr entwickeltes Blutgefässsystem auch bei Scolopendra vorfindet, deren
Tracheensystem eine hohe Stufe der Ausbildung erreicht und seine Ausläufer bis in die verborgensten
Schlupfwinkel des Körpers sendet. Es geht aus dieser Thatsache herv o r, dass der obige C u v i e r ’sche
Satz doch keine allgemeine Gültigkeit besitzt. Dies kommt meiner Ansicht nach dah e r, weil derselbe
einseitig gefasst und dabei übersehen worden ist, dass die Function des Blutgefässsystems nicht nur darin
besteht, das Blut zu den Athmungsorganen zu leiten, sondern ganz besonders auch darin, sämmtliche
Organe des Körpers mit Blut zu versorgen, damit dieselben daraus die für sie geeigneten Stoffe aufnehmen
können. Zu diesem Zwecke ist aber ein geordneter und regelmässiger Kreislauf nöthig, auch
wenn das Tracheensystem noch so sehr entwickelt is t, denn es könnte sonst das eine Organ zu v ie l, das
andere zu wenig Nährmaterial erhalten. Ein regelmässiger Kreislauf, der nur in einem Lacunensystem
stattfindet, scheint mir aber bei derartig beweglichen Thieren, wie es die Chilopoden sind, deshalb unmöglich
zu sein, weil durch die Contraction der Muskeln und die durch dieselbe bedingte — wenn auch
geringfügige - Verschiebung des Hautpanzers und der Organe, bald hier, -bald dort eine Lücke geschlossen
resp. geöffnet und so der ganze Kreislauf gestört werden kann. Deswegen haben auch die reich mit
Tracheen versehenen Chilopoden das von ihren Vorfahren ererbte arterielle Gefässsystem, welches das
Blut vom Centralorgan zu den Organen des Körpers befördert, nicht eingebüsst. Nur die Rückbeförderung
von den Organen zum Herzen findet in Lacunen statt. Dabei kommt das Blut mit den Tracheenstämmen
und besonders mit den äusserst feinen Endzweigen derselben, welche in dem interstitiellen bindegewebigen
Balkenwerk verlaufen (vergl. p. 13 und L e y d i g , Lehrb. d. Hist. p. 387, Fig. 200 B) und für einen
Austausch der Gase besonders geeignet erscheinen, in Berührung und kann so neuen Sauerstoff aufnehmen.
Zum Schlüsse wollen wir noch eine kurze Vergleichung des Gefässsystems der Chilopoden mit
dem ihrer muthmasslichen Verwandten, der Anneliden, Peripatiden, Diplopoden, Symphylen und Insecten,
anstellen. Was zunächst die erste Gruppe betrifft, so ist es wohl kaum zu bezweifeln, dass das Rücken-
und Bauchgefäss derselben den gleich gelagerten Gefässen der Chilopoden homolog sind. Ausserdem ist
es vielleicht wahrscheinlich, dass wir in den Aortenbogen des Kieferfusssegmentes bei den letzteren eine
von jenen Ringcommissuren vor uns haben, welche bei einem typischen Ringelwurm in jedem Segment
das Rücken- mit dem Bauchgefäss verbinden. Ob dagegen die Seitenarterien des Rückengefässes der
Chilopoden ebenfalls auf solche Ringcommissuren, die sich nicht mehr bis zum Bauchgefäss erstrecken,
oder auf Seitenarterien des Rückengefässes der Anneliden zurückzuführen sind, müssen wir dahingestellt
sein lassen.
Was Peripatus betrifft, so besteht nach G a f f r o n 1)*) dessen Gefässsystem nur aus einem con-
tractilen Rückengefäss, welches in einer durch ein Septum von der Leibeshöhle abgetrennten Pericardial-
höhle liegt und in seiner dorsalen Mittellinie einen Herznerv aufweist. Es dürfte wohl nicht allzu »ewagt
sein, a.uch diese Organe mit den gleich gelagerten der Chilopoden zu homologisiren. An dieser Stelle sei
auf zwei Bemerkungen hingewiesen, welche S e d g w i c k 28) in seiner Entwicklungsgeschichte von Peripatus
capensis macht. Derselbe sagt nämlich auf p. 85 folgendennassen: The body cavity and pericardium of
Pe ripatus, if comparable with anything in Annelida or Mollusca, must be looked upon as homologous
with the vascular systera! Ferner findet sich p. 119 folgende Stelle: In Peripatus the vascular channels
(der Anneliden), excepting the heart, are swollen out to wide channels, more or less completely continuous
with one another, so as to form four Or five main vascular tra cts, while in Lumbricus they are present
minute branching well-defined. Wenn sich auch bei dem heutigen Stande unserer Kenntniss vom Gefässsystem
des Peripatus gegen obige Deutung bei dieser Form nichts Thatsächliches einwenden lässt, so
geräth man doch in arge Widersprüche, wenn man sie auf die Chilopoden an wenden wollte, die doch
wohl in irgend einer verwandtschaftlichen Beziehung zu Peripatus stehen.
Betreffs der Diplopoden, sei bemerkt, dass sich bei diesen nach N e w p o r t 23) die vier Hauptb
e stan d te ile des Chilopoden-Gefässsystems vorfinden, nämlich: Rückengefäss mit Seitenarterien etc.,
Kopfaorta, Aortenbogen und Supraneuralgefäss. Selbstverständlich sind diese Gefässe direct mit denen
der Chilopoden zu vergleichen. Das Supraneuralgefäss unterscheidet sich von dem der Chilopoden nur
dadurch, dass es die ganze Oberfläche des Bauchmarkes und bis zu einer gewissen Entfernung auch noch
die Wurzeln der Spinalnerven bedecken soll. So wenigstens N e w p o r t ; L e y d i g 20) bestreitet dagegen
das Vorkommen eines Bauchgefässes bei den Diplopoden und will bei Spirobolus und Glomeris einen das
Bauchmark umfassenden, scharf umgrenzten Blutsinus gesehen haben.
Ferner sei nur noch erwähnt, dass G r a s s i 8) auch bei den Symphylen (Scolopendrellä) ein Supraneuralgefäss
nachgewiesen h a t, gegen dessen Homologie mit dem gleichnamigen Gefäss der Chilopoden
wohl auch nichts einzuwenden sein dürfte.
Was schliesslich die Insecten anbelangt, so sei darauf hingewiesen, dass bei diesen bisweilen
ebenfalls ein medianer Nerv auf der Dorsalfläche des Rückengefässes gefunden worden ist (z. B. bei
Melolontha von B l a n c h a r d ) , der wohl von dem Herznerv der Chilopoden abzuleiten sein dürfte. Auf
die Aelmlichkeit meiner Befunde beim Rückengefäss der Chilopoden mit denen G r ä b e r ’s 6) bei Insecten
wurde-bereits oben an der betreffenden Stelle (p. 24) hingewiesen.
*) Nach B a i f o u r ’) soll ausserdem bei Peripatus capensis ein medianes, sehr dünnes Bauchgefäss existiren,
welches zwischen der Haut und der Ringmusculatur verläuft. Dasselbe hat wegen seiner Lage nichts mit dem Supraneuralgefäss
der Chilopoden zu thun.