Am Morgen des 5*“ November, des Tages unserer Ankunft
in Tintellust, war es so kalt, dass wir erst zu später Stunde
aufbrachen, indem Hamma ganz einfach erklärte, die Kälte
verbiete die Reise: „däri yahanna fatautschi”. Nachdem wir
uns endlich aufgerafft, legten wir eine, starke Tagereise zurück
und erreichten nach einem 1 Inständigen Marsch unseren
heimathlichen Sandhügel, Tintellust gegenüber, wo unser
Lager so viele Tage gestanden hatte. Jedoch erreichten
wir ihn nicht auf dem geraden Wege, sondern auf „dem
Diebsteig”, um ungesehn selbst zuerst beobachten zu können.
Aber die Kesidenz des grossen Häuptlings Annür war in die
tiefste Ruhe versenkt; Höflinge, Schmiede, alle grossen Männer
und grossen Frauen waren abgezogen. Hamma schlich
si.ch hinein, um zu sehn, ob Niemand zurückgeblieben sei,
während wir unseren Reis kochten und uns für das Nachtlager
einrichteten. Ruhe und Rast jedoch kam ganz ausser
Frage; denn als Hamma zurückkehrte, rief er uns zum Aufbruch.
Nichts ist schrecklicher als ein nächtlicher Marsch,
vorzüglich wenn er auf eine starke Tagereise folgt. Aber in
der Begeisterung, südwärts vorzudringen, stimmte ich aus vollem
Herzen in den Ausruf mit ein: „se fatautschi -se Kanö”5
„keine Rast vor Kanö” *).
Es war um 10 Uhr Abends, als wir wieder aufbrachen.
Während die rüstigen, in ihre Lederschurze gekleideten,Sklaven
Aba.rschi und Dldi mit Hamma eifrigst Kameele und
Esel beluden und auch mein hitziger Schuschän mit Feuereifer
zur Weiterreise trieb, streifte ich zwischen Büschen, Bäumen
und Felsklippen umher, um alte liebe Plätze aufzusuchen und
Abschied von dieser Stätte zu nehmen, wo wir zuerst in ganz
neue Anschauungen und in eine ganz neue Welt uns eingelebt
hatten. Ungeachtet manchen kleinen Ungemaches war
mir dies Bergland voll ungeahnten neuen Interesses unend-
*) Wörtlich : „nur Keise, nur Kanö !”
lieh lieb geworden und mit tiefem Gefühl nahm ich Abschied
von Hügel, Thal und Klippe.
Mit Eifer brachen wir auf, im breiten Thale dahinziehend;
bald aber begann ich die Qual der Übermüdung zu fühlen.
Um nicht im schläfrigen Zustande vom Kameele zu fallen,
war ich genöthigt, einen grossen Theil der Nacht hindurch
mich zu Fusse hinzuschleppen, was eben nicht angenehm war,
da die Thalsohle einen sehr rauhen Boden hatte und an
vielen Stellen dicht mit. hohem Gras überwachsen war. Nachdem
wir eine felsige Fläche überschritten, erreichten wir
etwa um 4 Uhr Morgens die grosse, mit dem Thale von Tintellust
in engem Zusammenhänge stehende Thalebene Tin-
téggana *), Wir stolperten auf unserem Weg über dichte
Bü - rékkeba- Knollen und andere Kräuterarten, bis der Tag
mit ziemlich kalter Luft anbrach und unseren von Schläfrigkeit
umnebelten Blicken das Lager der Karawane enthüllte.
Da machten wir mehrmals Halt, um uns den Leuten zu erkennen
zu geben; denn unser Hauptmann Hamma war zurückgeblieben
und vhatte sich gemächlich am Wege schlafen
gelegt. Dann hielten wir uns gerade auf die beiden Europäischen
Zelte zu, welche sicher die Wohnstätte meiner beiden
*) Der Umstand, dass wir bei Nacht zogen, ist natürlich der Grund, dass
diese Strecke nur in allgemeinen Zügen auf der Karte angegeben werdenkann;
denn Herr Overweg hat leider gar nichts darüber. Ich will hier bemerken,
dass derselbe während der Zeit meiner Abwesenheit sehr bedeutend
an Beinausbrüchen gelitten hatte und fast einen Monat kränkelte. Dies ist
ein höchst merkwürdiger Umstand, auf den ich anderswo wieder zurückkommen
werde. Offenbar war dies der Einfluss der Kegenzeit, aber weder Herr
Richardson, noch ich litten irgendwie davon. Aber während ich später jedes
Jahr ausserordentlich an diesen Beinausbrüchen zu leiden hatte, bekam Herr
Overweg dieses Übel nicht wieder;’— allerdings starb er schon am Ende der
zweitfolgenden Regenzeit. Auch Dr. Vogel litt später ausserordentlich an diesem
Übel. In der That äusserte er in seiner aufgeweckten Laune das Bedenken,
dass die auf der Haut zurückgebliebenen Narben in späteren Cömbinatio-
nen des Lebens einen Ehescheidungsprozess zur Folge haben könnten. — Möge
ihm glückliche Heimkehr zu den Seinen beschieden sein!