
Es trat daher ein Process der Rückbildung ein, der freilich nicht mehr in allen Fällen nachweisbar ist, aber
stets nur wenig weitgehend gewesen sein dürfte. Viel wirksamer wurde das Auge mit den nunmehr herrschenden
Verhältnissen dadurch allmählich in Übereinstimmung gebracht, dass jede folgende Generation ihr
Sehorgan immer weniger weit ausbildete, bis endlich eine solche auftrat, in welcher dasselbe für das, was
es zu leisten hatte, gerade noch ausreichte. War dieser Zustand erreicht, die Anpassung der Art an die
neuen Existenzbedingungen also durchgeführt, so brachte in der Folge jede weitere Generation das Organ
immer wieder auf den nemlichen Ausbildungsgrad — so lange die Bedingungen dieselben blieben.
Es ist nun denkbar, dass sich die Umstände, unter welchen das Thier leb te , abermals geändert
haben können.
Wird dadurch der Einfluss des Lichtes noch mehr zurückgedrängt, so wird sich der geschilderte
Process wiederholen, bis eben endlich wieder eine Generation auftritt, bei welcher der Ausbildungsgrad des
Auges den an dasselbe gestellten Anforderungen gerade noch entspricht.
Vollständiger Lichtmangel endlich wird dann die Wirkung haben müssen, dass schliesslich das, nunmehr
vollständig bedeutungslos gewordene Sehorgan gar nicht mehr erst zur Anlage kommt. Obgleich nun
unter den von mir untersuchten Wirbelthieren solche sind, die in absoluter Dunkelheit leben, (Typhlichthys),
so geht doch keinem derselben ein Sehorgan vollkommen ab. Es muss ja dabei bedacht werden, dass zum
Vollzug des geschilderten Processes ganz bedeutende Zeiträume erforderlich sind: für die in völliger Nacht
lebenden amerikanischen Höhlenfische kann dann eben dieser Umstand noch nicht lange genug in Wirksamkeit
gewesen sein, um den gänzlichen Verlust des Auges herbeizuführen, ein Zustand, der neben gewissen
Wirbelthieren, hinsichtlich deren die Sache aber noch zweifelhaft scheint, z. B. von einigen Krebsen bereits
erreicht worden ist.
Man hat es also bei den „rudimentären“ Augen mit einer im Verlauf der Artentwicklung eintretenden
Verkümmerung zu thun, die man im Allgemeinen als R ü c k b i l d u n g bezeichnen mag, wenn man dabei
nur festhält, dass diese nichts anderes ist, als das R e s u l t a t e i n e r l a n g e n R e i h e v o n H e m m u n g e n ,
die bei den einander folgenden Generationen in immer früherer Zeit der ontogenetischen Entwicklung, auf
immer niedrigerer Stufe der Ausbildung des einzelnen Auges, eingetreten sind.
Dass neben dieser Hemmung freilich in den meisten Fällen auch in der Ontogenie wirkliche Rückbildungen
eintreten, zeigt sich bei Betrachtung der verschiedenen Thiere sehr deutlich.
Das Individuum entwickelt sein Auge zunächst nach dem für die Wirbelthiere im Allgemeinen
gütigen Plane. Zu einer gewissen Zeit aber tritt in der Weiterbildung, sehr deutlich ausgesprochen, eine
erhebliche V e r l a n g s a m u n g ein, die in den meisten Fällen mehr und mehr zunimmt und schliesslich zu
einem vollständigen Stillstände der Entwicklung des Sehorgans führt. Es ist für letzteres mit anderen Worten
zu einer H em m u n g gekommen, die n a c h e in e r k ü r z e r e n , o d e r l ä n g e r e n P e r i o d e im m e r m e h r
s ic h v e r l a n g s a m e n d e r W e i t e r b i l d u n g d i e S i s t i r u n g j e d e r E n tw i c k l u n g z u r F o lg e h a t .
Das erste Auftreten dieser Erscheinungen fällt in eine Zeit der embryonalen oder postembryonalen
Entwicklung, die in der S t a m m e s e n tw i c k l u n g dem Momente entspricht, in dem die neuen äusseren
Verhältnisse eingetreten sind, d. h. wo ein Lichtmangel sich geltend gemacht hat. Dieser wirkte ja zunächst
auf das Auge der Art noch nicht verändernd, es begannen sich aber allmählich die für das Leben unter
den neuen Existenzbedingungen nöthigen anderweitigen Einrichtungen anzulegen, oder, soweit sie schon vorhanden
waren, höher auszubilden. Dies geschah grossentheils auf Kosten der bis dahin für das Auge allein
zur Verfügung gewesenen Entwicklungsenergie. Es konnte dasselbe, wie gezeigt wurde, dann infolge dieses
Verlustes bei den kommenden Generationen nicht mehr die frühere Stufe erreichen, — was ja auch nicht
mehr nöthig war.
In der Entwicklung des I n d i v i d u u m s spiegeln sich diese Vorgänge ziemlich deutlich ab: Von
dem Momente an, wo die zum Ersätze des Sehorgans dienenden Organe mehr in den Vordergrund treten,
jenem damit ein gewisses Quantum von Entwicklungsenergie und Bildungsmaterial entziehen, geht die weitere
Ausbildung des Auges langsamer von statten, bis sie endlich ganz aufhört.
Die Periode, welche zwischen dem ersten Eintreten der Entwicklungsstörung und der Sistirung liegt,
entspricht dem Zeitraum in der phylogenetischen Entwicklung, während dessen die Ausbildung des Auges
auf einer von Generation zu Generation immer tieferen Stufe angehalten wird. Die Sistirung der ontogenetischen
Augenentwicklung entspricht dem Zeitpunkt in der Stammesentwicklung, wo das Auge seine
Anpassung an die neuen Verhältnisse vollendet hat. Wo in der ontogenetischen Entwicklung unverkennbare
Rückbildung auftritt, ist dieselbe stets als ein Zeichen aufzufassen, dass jene Vollendung noch nicht
erreicht, das Organ noch nicht auf dem Punkte angelangt is t, auf welchem es den Existenzbedingungen
gerade noch entspricht.
Als Beispiel*) der ausschliesslichen Wirkung einer Hemmung, nicht also einer Rückbildung, aufs
Auge mag hier die S e h z e l l e n s c h i c h t von T a l p a angeführt sein, die ja beim erwachsenen Thiere stets
noch Elemente des verschiedensten Ausbildungsgrades aufweist. Von einer Rückbildung kann hier, wie der
blosse Augenschein schon zeigt, nicht die Rede sein.
Weiterhin gehört hierher der Zustand des G l a s k ö r p e r s in einigen von den betrachteten Sehorganen.
Derselbe besteht z .B . b e iM y x in e fast ausschliesslich aus Bindegewebsmassen; bei S ip h o n o p s
und T y p h l o p s finden sich von solchen, wenigstens peripherisch, oft noch bedeutende Reste, Erscheinungen,
durch welche die Annahme der Rückbildung eines früher etwa vorhandenen, besser ausgebildeten Vitreum
unbedingt ausgeschlossen wird.
Als Beispiele eines R ü c k b i l d u n g s p r o c e s s e s mag andrerseits das T y p h l i c h t h y s a u g e in
allen seinen Theilen dienen, ferner die L i n s e und der G l a s k ö r p e r von P r o t e u s etc.
Das B e d e u t s a m e r e im Gestaltungsprocesse der rudimentären Augen ist die E n tw i c k l u n g s h e m m
u n g , während die R ü c k b i l d u n g sich immer nur als e in e F o lg e d e r l e t z t e r e n darstellt. Phylogenetisch
stellt die Rückbildung, d a , wo sie auftritt, das Mittel dar, den"Zustand des Gehemmtseins zu
erreichen; es mus also gesagt werden: die fraglichen Organe sind in der Entwicklung g e h em m t , und:
sie sind in d e r R ü c k b i ld u n g b e g r i f f e n . Hemmung bedeutet einen Zustand, Rückbildung ein Werden.
Es ist dabei selbstverständlich, dass unter Hemmung im obigen Sinne stets der Abschluss des ganzen Processes,
der Zustand nach der Sistirung, zu verstehen ist.
Die Entwicklungshemmung kommt bei den einzelnen Sehorganen nun aber in verschiedener Weise
zum Ausdruck. Am h ä u f i g s t e n handelt es sich um ein e in f a c h e s S t e h e n b l e i b e n auf einer ge-
*) Hier, wie im Folgenden begnüge ich mich damit, eine Anzahl von Beispielen aus den in den vorhergehenden
Kapiteln gemachten Angaben h e r a u s z u g r e i f e n , lediglich zur Illustration des Gesagten.