
E in e n direkten Beweis dafür, dass in der Tkat innerhalb der Sängethierklasse neue Z üh^-
entstehen können, sehe ich in dem bereits oben nachgewiesehen Auftreten der Dentition:1V'i
jeder Verdacht eines Atavismus ist hierbei ausgeschlossen.
Auf Einzelheiten kann ich hier nicht eingehen. Doch möchte ich schon jetzt vor verfrühten
Verallgemeinerungen warnen, da Vielzähnigkeit nicht bei allen Thieren nach derselben
Schablone beurtheilt werden darf. So haben uns jzi B. die ontogenetischen Befunde zu dem
Schlusssätze geführt, dass Priodon mit seinem Zahn-reicheren Gebiss sich ursprünglicher verhält
als Tatusia (vergl. oben pag. 111 und 117); wie aber die Vielzähnigkeit bei Priodon zu erklären
ist, muss speciellen Untersuchungen Vorbehalten bleiben. Mir kam es hier nur darauf an fe st
zustellen, dass ontogene t i s c he Thatsachen dafür sprechen, dass die Zahnzahl der Säugethiere
zunehmen kann, und dass somit nicht ausschliesslich, regressive Entwicklungsvorgänge das Zahnsystem
bei den Säugethieren beherrschen, wie man bisher ziemlich allgemein angenommen hat.
Zuletzt habe ich hier noch einer schon von älteren Forschern aufgestellten Hypothese
zu gedenken, der man neuerdings durch mehrere eingehende, hauptsächlich embryologischelfnter-
suohungen eine festere Begründung hat verleihen wollen. Ich meiner die Verschmelzungshypothese.
Kurz gefasst besagt dieselbe, dass die mehrhöckerigen Säugethierzähne aus einer Verschmelzung
von kegelförmigen Keptilienzähnen hervorgegangen, und dass die beiden Dentitionen (II. und i f l
der Säugethiere durch Verwachsung (Zusammenziehung) von mehreren Dentitionen der reptilienartigen
Säugethierahnen entstanden sind. Ihren extremsten Ausdruck findet diese Ansicht m
einem von B öse wiederholt (I, X U ) veröffentlichten Schema, welches die „Entwicklung des menschlichen
Gebisses aus einem reptilienähnlichen“ versinnlichen seil.
Da dieses Kapitel bereits stärker angeschwöllen ist als mir selbst, und wohl auch meinen
Lesern erwünscht erscheint, so beschränke ich mich hier unter Hinweisnäuf die obigen Ausführungen
darauf meine Stellung zu der fraglichen Hypothese kurz zu präcisiren un|;(meinem Programme
getreu dieselbe hauptsächlich voin embryologischen Gesichtspunkte aus zu betrachten.
Von diesem aus sprechen vornehmlich folgende Umstände ganz entschieden gegen diese Hypothese:
1) Jeder Zahn bei den Säugethieren, gleichviel ob Schneide-, Eck- oder Backenzahn, geht
unabänderlich aus einer v o l l k omme i e i n he i t l i ch en Anlage, dem knospenförmigen Schmelzkeime,
hervor; erst im Laufe der weiteren Entwicklung kann eine Complication eintreten, d. h. die
Anlage kann mehrspitzig werden. Eine ■ Zahnanlage aus mehreren, ursprünglich getrennten
Schmelzkeimen bestehend, wie es jene Hypothese fordert, ist bisher nicht nächgewiesen worden.
2) Dass die Schmelz- und Dentinbildung an der Spitze einer Backenzahnanlage beginnt,
wodurch kegelförmige Kappen entstehen, welche eine gewisse Aehnliehkeit mit Reptilienzahnen
haben, ist, wie auch KOkmthal (II) zugiebt, ohne Beweiskraft für die fragliche Hypothesb.
Denn die Entstehung der harten Zahnsubstanzen muss, wie S cheidt bemerkt, wie andere analoge
Entwicklungsvorgänge mit kleinem Ansatz beginnen und allmählich fortschreiten. Und dass
es gerade die Kronenspitzen sind, welche zuerst gebildet werden, braucht doch nichts anderes
zu beweisen, als dass in Uebereinstimmung mit einem wohlbekannten embryologischen Gesetze
die ältesten Theile d. h. diejenigen Theüe, welche zuerst in Gebrauch kommen (in diesem Palle
also die Kronenspitzen), auch zuerst fertig werden. Eine Hypothese, welche den Bildungsmodus
der harten Zahnsubstanzen zu Gunsten einer Entstehung der Säugethierzähne aus einer
Verwachsung von kegelförmigen Beptilienzähnen zu verwerthen sich bemüht, begeht einen
Missgriff ähnlich demjenigen, dessen sich die „"Wirbeltheorie des Schädels“ in ihrer ersten Phase
schuldig machte.
3) Der factisch beobachtete umgekehrte Entwicklungsprocess'(Theilung von Backenzähnen
in einspitzige Zähne bei den Bartenwalen) betrifft ein Zahnsystem, das in starker Rückbildung
begriffen ist. Von solchen Fällen Schlüsse auf einen entgegengesetzten, einen progressiven Entwicklungsgang
zu ziehen, ist man um so weniger berechtigt, als heim Gebiss regressive und progressive
Entwicklung nach einem ‘verschiedenen Modus erfolgen, worauf ich bereits früher (III,
pag. 545) aufmerksam gemacht habe ’). Der Werth der von K ükenthal (II) bei Phocaena beobachteten
Verschmelzung von ursprünglich vollständig getrennt angelegten Zähnen ist dagegen
unverkennbar, indem hierdurch die Möglichkeit einer Verwachsung von Zähnen verschiedener
Dentitionen unter günstigen Bedingungen nachgewiesen ist.
Die embryologische Forschung hat — von dem eben angedeuteten Fall abgesehen —
somit bisher in keiner Weise die Verschmelzungshypothese in obiger Fassung zu unterstützen
vermocht. Will man aber den Begriff der Verschmelzung unbedingt beibehalten, so kann man,
wie H o ffm a n n richtig bemerkt, und wie auch ich bereits oben (pag. 142) hervorgehoben habe,
sich vorstellen, dass das Schmelzleistenmaterial, welches bei den niederen Wirbelthieren zur
Ausbildung einer ganzen Anzahl von Zahnserien verwendet wird, bei den Säugethieren zur Ausbildung
von bedeutend wenigeren, dafür aber komplicirteren Zähnen benutzt wird.
Wenn möglich noch entscheidender sprechen die Thatsachen der Paläontologie und vergleichenden
Anatomie gegen die Verschmelzungshypothese. Es ist hier nicht meine Aufgabe die
schon von anderen wie Osborn und J aekel dieser Annahme entgegengesetzten phylogenetischen
Thatsachen zu besprechen. Ich erinnere nur daran, dass eine progressive Entwicklung des Zahn-
systemes innerhalb der Säugethierklasse nicht nur ontogenetisch (vergleiche oben pag. 153) sondern
auch paläontologisch nachweisbar ist, wie ausser vielen ändern folgende unbestreitbare Thatsachen
darlegen: bei den (geologisch) ältesten Säugethieren (Dromotherium, Microconodon, Spala-
cotherium etc.) findet eine a llmä h l i g e Vermehrung und Vergrösserung der Kronenspitze statt;
bei den Multituberculata haben die Molaren der ältern Formen weniger Spitzen als diejenigen
der späteren; bei den ersten Hufthieren geschieht der Zuwachs der Krone durch das nach und
na.cii erfolgende Auftreten neuer Höcker — lauter Thatsachen, die mit der Verschmelzungshypothese
unvereinbar sind. Ich erinnere ferner an die beredte Widerlegung der fraglichen Hypothese durch
eine Entwicklungsserie, welche allgemein als eine der am sichersten begründeten angesehen wird,
die man überhaupt kennt, nämlich an die historische Entwicklung des Elephantengebisses aus
demjenigen des Mastodon (allmähliger Uebergang der Joche in Lamellen, Vermehrung der letzteren
u. s. w.), gegen welche Thatsache die von R öse (XIII) angeführten Momente ans der ontogenetischen
Ausbildung der Elephantenzähne doch gar nichts beweisen.
Uebrigeiis verkennt K ükenthal (II) keineswegs die hypothetische Natur dieser Ansicht,
während allerdings R öse dieselbe bedeutend zu überschätzen scheint, wenn er (VI) von seiner
„Theorie“ der Entstehung der Säugerzähne durch Zusammenwachsen mehrerer Einzelzähnchen
*) Ein weiterer Fall, den Kükenthal (IV) zur Stütze seiner Ansicht heran zieht: dass bei Phoca barbata die
Backenzahnkronen allmählich so stark abgekaut werden, dass schliesslich nur die beiden Wurzeln, die dann ebenso
viele Zähne vorstellen sollen (!), übrig bleiben — ein solcher Beweis entzieht sich ernsthafter Discussion. Welche
Stütze die von demselben Verfasser (II) beobachteten Fälle bei Dasypodidae der fraglichen Hypothese zu verleihen vermögen,
muss ich einstweilen dahingestellt sein lassen; von ontogenetischem Standpunkte habe ich diese Thatsache oben
(pag. 107) besprochen.