sichtbarer Bewegung. Dies ist jedoch keine Sinnesreaktion zu nennen. Die Pflanze besitzt zweifellos
Irritabilität, aber keine Sensibilität, oder letztere nur dann, wenn man Sensibilität und Irritabilität
als gleichbedeutend betrachtet. Wenn ich auch absehe von dem oben angeführten Unterscheidungsmerkmal
zwischen den beiden Begriffen, dass nämlich Sensibilitätsäusserungen stets in psychischen
Vorgängen bestehen, welche wir einem Geschöpfe nicht ansehen können, so giebt es doch nooh eine
weitere Bedingung, welche erfüllt sein muss, damit man eine Reaktion auf Reizung eines lebenden
Wesens unbedenklich als Sensibilitäts- oder als Sinnesäusserung bezeichnen kann: Die R e a k tio n
muss v e rh ä ltn ism ä s s ig ra sc h , s p ä te s te n s in n e rh a lb e in ig e r S ek u n d en e in t r e t e n 1).
Wenn es P fe ffe r (Die Reizbarkeit der Pflanzen, Vortrag gehalten in der 05. Versammlung deutscher
Naturforscher, Nürnberg 1893) als ein Zeichen von Sensibilität betrachtet, dass sich eine Pflanze
heliotropisch nach dem Lichte, eine Wurzel gcotropisch in die Erde hinein wendet, so muss demgegenüber
betont werden, dass sich dieser Standpunkt in der Pflanzenphysiologie aufrecht erhalten
lassen und bewähren mag, nicht aber in der Tierphysiologie. Die Reaktion auf Reiz ist eben
bei Pflanzen und Tieren etwas sehr verschiedenes: dass es so verschieden ist, hat seinen Grund
wieder darin, dass cs nicht nur einerlei Reizung giebt, sondern mehrerlei. Wenden wir Virchow’s
Bezeichnungsweise an, so haben wir in unserm Fall, bei Sinnesreizung, fu n k tio n e lle Re izu n g
kümmern uns aber nicht um die fo rm a tiv e und die n u tr itiv e Reizung, welche für die Reizbewegungen
der Pflanzen so oft massgebend sind (Wachstumskrümmungen, Heliotropismus, Geotropismus
u. s. w.). Sie fehlen beim Tiere natürlich auch nicht, aber sie führen zu einer anderen Art von
Erregungsvorgängen. Geht man der Sache auf den Grund, so beruhen freilich alle Erregungsvorgänge,
ob funktioneller, formativer oder nutritiver Art, schliesslich auf Stoffwechselvorgängen, die sich vielleicht
sogar in allen drei Fällen recht ähnlich sein können. Es hiesse aber dem Wort und dem Begriff
Sensibilität (= Sinnesempfindlichkeit) Gewalt anthun, wollte man andere als funktionelle Reize Sinnesreize
nennen.
Die rasche Erregungsleitung geht den meisten Pflanzen ab. Die natürlich nicht fehlenden
Ausnahmen sind bekannt: Die Mimosen (Sinnpflanzen) gleichen in ihrer Reaktion auf Reiz fast den
Aktinien. Gewisse Bezirke der Pflanze hängen physiologisch besonders nahe zusammen, die Weiterleitung
der Erregung zum übrigen Teile der Tflanze ist erschwert, doch nicht unmöglich. Aber solche
Eigenschaften bleiben Ausnahmen bei Pflanzen, sind die Regel bei Tieren; sie stellen den höchsten
Grad von Vollkommenheit in sinnesphysiologischer Beziehung dar, welchen die Pflanzen erreichen
können, dagegen den niedersten Zustand des Sinnesapparates, welchen man bei Metazoen beobachtet.
Nicht umsonst führen die Coelentcraten auch den Namen Pflanzentiere: Sie zeigen eben nicht nur
äusserlich in ihrer Gestalt, sondern auch in ihrer Physiologie nahe Beziehungen zur Pflanzenwelt.
Da das Universalsinnesorgan immer zugleich auch unter den weiter unten zu besprechenden Begriff
des Wechselsinne8organcs fällt, wird manches von dem, was über das Universalsinnesorgan zu
sagen wäre, besser gemeinsam mit jenem abgehandelt. Ich gehe jetzt zunächst an die Besprechung
des ändern Extremes, des spezifischen Sinnesorganes, dessen Eigenschaften ich für weit abweichend
von denjenigen der Sinnesorgane niederster Tiere halte. Die Wechselsinnesorgane vermitteln
zwischen beiden.
’) Icl) 1)111)6 dieser Bedingung oben auch in der Definition von Sinnesthätigkeit Rechnung getragen. Vergl. S. 3.
D a s spezifische Sinnesorgan.
Als sp e z ifis c h e S in n e so rg an e b e z e ic h n e t man solche A p p a ra te eines leb en den
W e s en s, v e rm itte ls t deren von dem Wesen nur eine bestimmte G a ttu n " derje
n ig e n R e iz e wahrgenommen wird, welche für d a s s e lb e ü b e rh a u p t wahrnehmbar
sind, o d e r mit an d e ren Worten: A p p a ra te , die n u r einem der Sinne d ien en , welche
ein Wesen b e s itz t. Derjenige Reiz, w e lch e r durch das S in nesorgan n ormalerweise
wahrgenommen wird, h e is s t sein a d ä q u a te r od e r homologer Reiz. Andere Re iz e
( in a d ä q u a te oder h e te ro lo g c ) werden d urch ein bestimmte s sp e z ifis c h e s S in n e sorgan
e n tw e d e r g a r n ic h t p e r c ip ie rt, od e r wenn sie eine Empfindung e rz eu g en ,
is t es d ie je n ig e , Welche d e r a d ä q u a te Re iz e rz e u g t haben würde. Der in ad ä q
u a te Re iz wird also m itte ls t des sp e z ifisch en S in n e so rg a n e s n ic h t als das erk
a n n t, was e r is t, sonde rn falsch g e d e u te t.
Es mag auffallen, dass ich cs unterlasse, einer Diskussion von Fragen, welche die spezifischen
Sinnesorgane und spezifischen Energien betreffen, eine eingehende Berücksichtigung der diesbezüglichen
Litteratur voranzustellen. Doch glaube ich dies mit gutem Grunde zu thun: Die Hauptfrage, die der
spezifischen Energien, ist so weit von einer einstimmigen Beantwortung entfernt, dass vielmehr die
angesehensten Forscher in dieser Hinsicht zu entgegengesetzten Resultaten gekommen sind. Eine
eingehende Diskussion ihrer Anschauungen müsste allein schon einen Band füllen, würde also jedenfalls
dem Zwecke dieser Zeilen, welche nur für eine speziell-sinnesphysiologische Abhandlung meinen
allgemein-sinnesphysiologischen Standpunkt präzisieren sollen, nicht entsprechen. Zudem ist die neuere
Litteratur über den in Rede stehenden Gegenstand erst vor kurzem von D e s so ir (69) zusammengestellt
und diskutiert worden. Dessoir's Überlegungen mussten schon darum von den meinigen
abweichende Resultate geben, weil genannter Forscher die Tiere nicht in den Kreis seiner Betrachungen
zieht, sondern die Fragen vom einseitigen Standpunkte menschlicher Physiologie beleuchtet.
Der Grund, auf welchem sich eine vergleichende Sinnesphysiologie aufbauen könnte, ist noch
zu wenig konsolidiert, als dass man sagen könnte, die Anschauung dieses oder jenes Forschers habe
als Ausgangspunkt für Erörterung allgemein sinnesphysiologischer Fragen zu dienen. Darum wird
es erklärlich sein, wenn ich mir die Grundlagen meiner sinnesphysiologischen Anschauungen selbst
oonstruiere. Wie schwankend allein die Auffassung des Gesetzes der spezifischen Energieen ist, wird
aus folgenden Citaten zu ersehen sein, welche deutlich zeigen, dass in dieser Frage Übereinstimmung
noch nicht herrscht.
W u n d t äussert sich u. a. wie folgt:
(l.^c.-pg. 217), , . . . „Dem liegt aber eine Annahme zu Grunde, auf deren Widerlegung die
ganze neuere Nervenphysiologie gerichtet ist: die Annahme einer sp e z ifis c h e n F u n k tio n d e r
n e rv ö sen E lem e n ta r te ile .“
(pg. 285). „Man spricht“ . . . . „häufig jedem Sinnesnerven und jedem Sinnesorgane eine
sp e z ifis c h e E n e rg ie zu, worunter man die Thatsache versteht, dass die Erregung eines der genannten
vier Organe“ [die vier Sinnesorgane des Gesichts, Gehörs, Geruchs, Geschmacks sind gemeint]
„und der mit denselben zusammenhängenden Nerven durch irgend einen Reiz eine besondere nur dem
betreffenden Organe eigentümliche Beschaffenheit der Empfindung erzeuge. In dieser Allgemeinheit
ausgedrückt, bestätigt sich jedoch der Satz von der spezifischen Energie nicht in der Erfahrung.