Und dieser (phylogenetische) Funktionswechsel vollzieht sich offenbar nicht etwa im Verlaufe
einer langen Entwicklungsreihe, wo es ganz erklärlich wäre, wenn eine Umgestaltung des Nervensystems
parallel mit derjenigen der Form der Sinnesorgane vor sich gienge, sondern bei der Umbildung
verhältnismässig sich nahe stehender Arten. Ja auch innerhalb der Art ist die Funktion noch keine
feste. An Stellen, wo regelmässigerweisc ein Riechhaar stehen sollte, kann bei einem einzelnen
Individuum durch eine Art zufälliger Rückschlagsbildung ein Fühlhaar treten; die beiden Arten der
Sinneshaare können sich also als Endapparate eines Nervenstammes vertreten, was sicher nicht möglich
wäre, wenn der zu dem Sinnesorgane gehörige Nerv und Zentralapparat phylogenetisch Anpassung
an nur e in e Reizart gewonnen hätte.
Das Auge ist für den Maulwurf fast wertlos, aber es wandelt sich nicht in ein feines Tast-
örgan um, sondern es wird nur schwach entwickelt. Die Differenzierung und Anpassung ist schon
zu weit vorgeschritten, als dass eine Funktionsänderung noch möglich wäre. Teilweise aus demselben
Grunde wandelte sich das Riechorgan der Cetaceen bei deren Anpassung an’s Wasserleben nicht in
ein Schmeckorgan um, welches im Wasser funktionieren kann. Das gerade Gegenteil dieser Fälle
zeigen die Hautsinnesorgane der Insekten, bei welchen phylogenetischer Funktionswechsel innerhalb
weiter Grenzen möglich ist, weil Funktionswechsel beim Individuum noch vorkommt und die Regel
ist. Ja sogar aus dem Gebiete der höheren Sinnesorgane lassen sich Beispiele liier anführen; so
beschreibt G. Jo s e p h die Umbildung des Auges eines Höhlenwasserkäfers in ein Tastliaar.“
Seitdem ich die vorstehenden Sätze schrieb, habe ich den phylogenetischen Funktionswechsel
bei Insektensinnesorganen noch viele Male bestätigt gefunden: Bei genauerem Studium der Sinneswerkzeuge
besonders an den Mundteilen der Insekten erkennt man bald bestimmte Stellen, die bei
allen Familien in mehr oder weniger ausgeprägtem Masse Sitz einer Gruppe von Nervenendigungen
sind. Unschwer ist zu bemerken, dass diese Sinnesorgangruppen je einander homolog sind. Gleichwohl
findet man sie bei einem Insekt aus Fühlhaaren, bei anderen aus Grubenkegeln bestehend,
und man ist aus dem Bau der einzelnen Organe auf Verschiedenheit der Funktion zu schliessen
berechtigt. Auch das Experiment hilft mit, und zeigt, dass in einem Falle Riechorgane oder
Schmeckorgane stehen, wo ein anderes Insekt Tastorgane trägt u. s. w.
Wenn wir diese Beobachtungen mit der Thatsache Zusammenhalten, dass in einzelnen Fällen
das Experiment auch noch an Insekten Wechsel der Funktion bei den Sinnesorganen des Individuums
erkennen lässt, oder zum mindesten wahrscheinlich macht, so wird die Vermutung nicht unbegründet
erscheinen, dass bei Insekten die Sinnesapparate noch keineswegs die Spezialisierung gewonnen
haben, wie diejenigen der höheren Wirbeltiere. Es sind ja, wie gesagt, Sinnesorgane, sogar
die Hautsinnesorgane der Insekten, vielfach spezifische zu nennen, aber der Gleichgewichtszustand,
den sie damit erreicht haben, ist nur ein labiler; sie sind zwar beim Individuum oft nicht mehr eigentliche
Wechselsinnesorgane zu nennen, wohl aber verdienen sie diesen Namen, wenn man die Phylogenie
und die Artbildung bei den Insekten ins Auge fasst. Zu den entscheidensten Thatsachen gehört
für mich die, dass selbst innerhalb der wohlcharakterisierten Art noch Funktionswechsel möglich ist,
wofür ich früher schon Beispiele angeführt habe, auf welche ich hier zurückverweisen kann (216
pg. 28 f.): Riech- und Tasthaare, andererseits Schmeck- und Tasthaare können sich als Endapparato
eines und desselben Nerven bei den verschiedenen Individuen einer Art vertreten und liefern damit
den Beweis, dass der gesamte Nervenapparat, der zu einem solchen Endorgane gehört, sich noch
nicht auf eine der genannten Funktionen ausschliesslich spezialisiert hat.
In den bisherigen Betrachtungen über Universal- und Wechselsinnesorgan habe ich mit Absicht
eine Seite der Frage möglichst unberührt gelassen, welche indessen nicht unberücksichtigt bleiben
darf, die Frage danach, was für eine Vorstellung wir uns über die Natur der durch jene Sinnesorgane
vermittelten Empfindungen machen können. Natürlich müssen wir von vorneherein darauf
verzichten, über die absolute Qualität der Sinnesempfindungen der niederen Tiere etwas zu erfahren;
nicht so ganz aussichtslos sind Betrachtungen über die Beziehungen der verschiedenen Sinnesempfindungen
unter einander, über die relative Empfindungsqualität. Gerade auf diese bezieht sich
nun auch die Frage, die sich als Consequenz der Annahme von Wechselsinnesorganen erhobt. Mit
der Thatsache, dass ein Sinnesapparat verschiedenen Sinnen, etwa Tast-, Temperatur- und Geschmackssinn
wechselsweise oder gleichzeitig dient, ist, meiner Auffassung nach, noch nicht gesagt, dass dieses
Sinnesorgan auch dreierlei Kategorien von Empfindungen vermitteln müsse. Diese Auffassung des
Begriffes „Sinn“ weicht von der allgemein üblichen etwas ab, und ich hatte sie daher oben des
näheren zu begründen. Wenn ich eben sagte, es sei möglich, Wechselsinnesorgane anzunchmcn,
welche die Verschiedenen durch sie vermittelten Eindrücke nicht als lauter verschiedene Empfindungen
ins Bewusstsein bringen, so soll auf der anderen Seite damit nicht gesagt sein, dass alle Wechselsinnesorgane
diese Eigenschaft haben müssen. Im Gegenteil, ich glaube, wir können die Hypothese
nicht umgehen, dass es Sinnesorgane giebt, welche im Stande sind, zwei oder mehrere Arten von
Empfindungen durch ein einziges reizaufnehmendes und reizlcitendes Element zu vermitteln. Solche
Sinneswerkzeuge teilen dem Zentralorgan demnach nicht nur mit, dass sie überhaupt gereizt worden
sind, sondern sie teilen auch die Art des Reizes jenem mit, können also die Reize in zwei oder mehr
Klassen unterscheiden.
Wäre dies nicht der Fall, so würden Tiere mit Wechselsinnesorganen mannigfachen Sinnestäuschungen
unterworfen sein, wie das folgende Beispiel zeigt: Die meisten Insekten besitzen am
Gaumen (d. h. dem Dache der Mundhöhle) eine mehr oder weniger grosse Zahl von Geschmacksorganen,
bestehend aus sogenannten Grubenkegeln. Dadurch, dass diese mit einer zarten Chitinhüllo
bekleideten Nervenendapparate in Gruben eingesenkt stehen, sind sic gegen gröbere mechanische
Beeinflussungen und Schädigungen gut geschützt. Da sie indessen nicht ganz eingesenkt liegen,
sondern mit der Spitze stets ein wenig hervor und in die Mundhöhle hineinragen, sind sie nicht vor
jeder Berührung geschützt: Vielmehr müssen sie mit den im Munde befindlichen Bissen, deren Geschmacksstoffe
sie zu erregen mögen, andauernd und häufig in Contact kommen. Gäbe es nun spezifische
Sinnesorgane, welche, von mechanischem Reize getroffen, gar nicht mit Empfindung reagierten,
und wären die genannten Endorgane derartige Apparate, so wäre die Sache freilich einfach. Der
mechanische Reiz, wie alle anderen inadäquaten Reize, würden einfach wirkungslos abprallen, das
Endorgan könnte gedrückt und gezerrt werden, so viel man wollte, es würde keine Empfindung in’s
Bewusstsein bringen. Sinnestäuschungen würden dann nicht Vorkommen, und nur, wenn der adäquate
(Geschmacks-) Reiz zugegen wäre, würde das Sinnesorgan in Funktion treten. Diese Annahme ist
aber, ganz besonders wenn es sich um den mechanischen Reiz handelt, zwar nicht undenkbar, aber
unserem Verständnisse so fern, dass sie nicht ohne zwingenden Grund gemacht werden sollte. Ein
solcher liegt nun, vor allem im Reiche der niederen Tiere, nicht vor. Selbst für das menschliche
Geruchs- und Geschmacksorgan ist in dieser Hinsicht nichts bekannt; wir wissen nicht, ob mechanische
Einflüsse, welche diese Sinneswerkzeuge treffen, sie ganz unerregt lassen, oder in richtiger Weise,
d. h. als Tastempfindungen zum Bewusstsein kommen. Natürlich ist es schwer, die Erregung anderer
Nervenfasern, den sensiblen Trigeminusästen angehörig, auszuschliessen, und es muss sehr schwierig