Ich gebe zu, dass dieser Vorgang nicht selten bei Reizversuchen an Sinnesorganen vorkommt und zuweilen
Täuschungen bewirkt. Diese Versuche müssen eben mit der nötigen Kritik ausgeführt und
beobachtet werden. So habe ich z. B. es niemals als ein Zeichen von Schmeckvermögen der Haut
von Beroe angesehen, dass sie gegen verdünnte Salzsäure und concentrierte Pikrinsäure empfindlich ist.
Für wichtig und bemerkenswert halte ich es dagegen, wenn Chinin, Strychnin, Vanillin und andere
für die Epithelgewebe unschädliche Stoffe erregend wirken, noch dazu in so hochgradiger Verdünnung,
wie ich es z. B. beim Vanillin bemerkte. Um durch derartige Stoffe erregt zu werden, dazu gehört
eben schon eine besondere Empfänglichkeit für chemische Reize. Bemerkenswert scheint mir aber
vor allem folgendes. Sollten diese genannten Substanzen doch etwa die Fähigkeit haben, in ab n o rm e r
Weise die Nervenstämme oder die Tastorgane (im engeren Sinne) zu erregen, so wäre es sein-
wunderbar, dass sie dies bei einer Tiergattung thun, bei ähnlich organisierten anderen Familien dagegen
nicht. Beruhte z. B. die Reaktion der Beroe auf Vanillin, Chinin u. s. f. auf abnormer Reizung
von Tastorganen oder Nerven, so wäre es gar nicht zu verstehen, dass diese Mittel, die also sehl-
eingreifend wirken müssten, an der Medusenhaut (z. B. bei Carmarina hastata) und an der Haut der
Actinien so ganz wirkungslos, wie Wasser, abfliessen, und bei Carmarina nur die Randfäden, bei
Actinien nur die Tentakel reizen. Gerade auch die Thatsache, dass G eschmack, Wärme und
B e rü h ru n g die Tentakel der Actinien und das Eimersche Organ bei Beroe reizen, an den Randfäden
(Tentakeln) der äusserst sensiblen Carmarina dagegen die Empfindlichkeit n u r fü r chemische
Re iz e ausgebildet ist, für thermische Reize mässigen Grades dagegen fehlt, spricht in meinen
Augen ganz entschieden für die Existenz eines deutlich ausgebildeten, nicht zwecklosen und nicht
zufälligen Schmeckvermögens und Temperatursinnes in jenen ersten Fällen. Bei Carmarina haben
sich die Randfäden mehr spezialisiert, indem sie nur auf chemische Reize und auf Erschütterung,
nicht aber auf Wärme und Berührung reagieren.
Ähnliche Beispiele giebt es in Menge. Die Haut mancher Meeresschnecken (Aplysia, Fleuro-
branchus) ist sehr empfindlich für chemische und andere Reize. Dass dies aber nicht eine zufällige
und zwecklose Eigenschaft der Schneckenhaut überhaupt ist, scheint mir daraus hervorzugehen, dass
sie bei den von mir geprüften Süsswasserschnecken fehlt oder wenigstens höchst gering entwickelt
ist. Man könnte ja denken, die weiche schleimige Schneckenhaut sei für chemische Reize überhaupt sehr
durchlässig. Dass dies nicht der Fall ist, zeigen Limnaeus, Planorbis und einige andere Schnecken,
indem sie eine gegen ziemlich starke chemische Reize unempfindliche Haut besitzen. Wirklich widerstandsfähiger
und fester ist ihre Haut dabei keineswegs als die der Meeresschnecken, sondern der
Unterschied muss wohl in der Empfindlichkeit der Sinneszellen liegen.
Einige Fälle giebt es, wo man in der That sehr zweifelhaft sein kann, ob man hier ein für
mehrere Reizarten abgestimmtes Wechselsinnesorgan oder ein spezifisches Sinnesorgan vor sich hat,
für welches zufällig ein auffallend stark wirksamer inadäquater Reiz gefunden worden ist. Zu diesen
zweifelhalten Fällen zähle ich die von mir an der Haut von Haifischen beobachtete Erscheinung hochgradiger
Empfindlichkeit für gewisse schwache chemische Reize bei Unwirksamkeit anderer, aber ebenfalls
chemischer Reize, worauf ich unten näher einzugehen haben werde.
Als gute Beispiele für Wechselsinnesorgane betrachte ich die Hautsinneswerkzeuge vieler
Würmer, z. B. der Blutegel und Regenwürmer. Die Hautsinneszellen sind hier, wenigstens teilweise,
zu Knospen zusammengeordnet. Diese Knospen sind jedoch nicht, wie zuweilen angenommen wird,
spezifische Geschmacksorgane, sondern sie besorgen zugleich die Funktionen des nachweisbar vorhandenen
Tast- und Temperatursinnes. Die Lichtempfindung, die beim Regenwurm noch an die
indifferenten Hautsinneszellen geknüpft erscheint, hat beim Egel besondere Organe, Augen, erhalten, womit
nicht ausgeschlossen ist, dass auch noch die Knospen der Egelhaut Licht wahrzunohmen vermögen,
die Augen also nur Stellen gesteigerter Lichtempfindlichkeit sind. Weniger leicht zu durchschauen
sind die Verhältnisse bei den höchsten Vertretern der wirbellosen Tiere, den Arthropoden, speziell den
Insekten. Anstatt der monotonen Gleichförmigkeit der Hautsinnesorgane der Coelenteraten, Würmer
und Schnecken treffen wir hier ausserordentlich mannigfaltige Formen an, und zwar oft mehrere verschiedene
Formen bei einem und demselben Tiere, z. B. an den Fühlern. Wenn nun die Fühler
als Organe mehrerer Sinne sich herausstellen, ist damit noch keineswegs gesagt, dass die einzelnen
auf ihnen sich findenden Endapparate Wechselsinnesorgane sein müssten; sie könnten eben so gut
spezifische Sinnesorgane mit konstanter Funktion sein, welche sich in die verschiedenen Sinneswahrnehmungen
teilen. Durch Vergleichung einer grossen Zahl von Insektensinnesorganen und genaue
Berücksichtigung der Verhältnisse bin ich aber doch dahin gekommen, die schon von anderen Autoren
vermutete Fähigkeit des Funktionswechsels auch, bei Insekten, überhaupt Arthropoden, anzunehmen.
Doch kommen hier zweifellos selbst unter den Hautsinnesorganen schon spezifische Anpassungen
vor, zum Teil in einer ausserordentlich hübschen und durchsichtigen Weise. Dies gilt z. B. von den
gefiederten und ruderförmig verbreiterten Haaren mancher Wasserinsekten und Krebse, welche in
eklatanter Weise die Bestimmung zur Wahrnehmung des Wasserwiderstandos haben. Andere Sinnesorgane
bei Insekten und Krebsen haben neben deutlicher Anpassung an eine bestimmte Funktion offenbar
noch eine zweite untergeordnete, aber doch wohl unentbehrliche Funktion, der sie dienen können.
Die Geschmacksorgane der Insekten können z. B. durch Funktionswechsel als Tastorgane funktionieren,
die Geruchsorgane als Temperaturorgane, die Tastorgane als Hörorgane. Indem, wie erwähnt
, bei den Insekten oft kleine, scheinbar geringfügige Modifikationen an den Hautsinnesorganen
eine Tendenz zur Anpassung an eine bestimmte Funktion, zur Spezialisierung verraten, bieten gerade
sie Gelegenheit zu einer besonders interessanten und wichtigen Beobachtung. Ich habe die Thatsache,
auf die ich mich hier beziehe, früher schon als „p h y lo g en e tis ch en F u n k tio n sw e c h se l“ 1) dem
in jedem Augenblicke möglichen Funktionswechsel beim Individuum gegenübergestellt (vergl. 216
pg. 14.) Ich führe einige diesbezügliche Sätze meiner früheren Abhandlung hier an: „Mit der Fähigkeit
der Hautsinnesorgane der Insekten, die Funktion wechseln zu können, hängt eine weitere bedeutungsvolle
Eigenschaft des Systems der Sinnesorgane bei denselben zusammen. Wenn ein Sinnes*
organ bei einer Insektenspezies bald zum Riechen, bald zum Tasten dienen kann, ist es leicht verständlich,
wenn bei zwei anderen Arten, welche sich phylogenetisch von jener ableiten, eine Teilung
in der Weise stattfand, dass das Organ bei der einen Art nur noch riechen, bei der anderen nur
noch tasten kann. Aus den dünnwandigen Haargebilden der Tnsektenfühler, welche allgemein als Riechorgane
gelten, kann durch eine sehr geringe Modifikation im Bau, nämlich durch Verdickung der
Chitinmembran, ein Organ werden, das zwar wohl noch tasten, nicht aber riechen kann. Auf der anderen
Seite wird dadurch, dass das Sinneshaar in eine Grube versenkt wird, seine Diinnwandigkeit
aber beibehält, ein Organ geschaffen, welches noch zu riechen im Stande ist, aber nicht zum Tasten
verwendet werden kann.
*) Die Aufstellung dieses Begriffes war mit ein Grund für mich, die Bezeichnung „WechselSinnesorgan“ dem von
H ä c k e l gelegentlich benützten Namen „gemischtes Sinnesorgan“ vorznzielien, indem ich Gewicht darauf lege, dass die
Funktion nicht nur heim Individuum „wechselt“, sondern dass sie auch in der Phylogenese „wechselt.“ Der Ausdruck „gemischt“
würde hier nicht passen.