
Ausgehend von der Überzeugung, dass die Sinnesorgane in den niedersten Stufen des Tierreiches
eine Vereinfachung gegenüber dem Zustande des Sinnesapparates bei höheren Tieren zeigen müssen,
und zwar speziell in der Richtung, dass die Spezialisierung für bestimmte Funktionen noch weniger fortgeschritten
sein werde, habe ich schon früher (216) den Begriff des „Wochseisinnesorganes“ demjenigen
des „spezifischen Sinnesorganes“ entgegenstellt. Im folgenden gedenke ich die Beziehungen
dieser beiden Typen von Sinnesorganen zu einander zu erörtern. Ich bespreche zunächst eine besondere
Form des Wechselsinnesorganes, das Universalsinnesorgan. Wechselsinnesorgane im allgemeinen habe
ich definiert als Organe, die mehreren Sinnen gleichzeitig oder wechselsweise dienen können. Der
primitivste Zustand ist der, dass überhaupt nur einerlei Art von Sinnesorganen vorhanden ist, welche
sämtliche dem Tiere möglichen Sinnesfunktionen verrichtet. Dies eben ist das Universalsinnesorgan.
Ob man diese meine Bezeichnungen und diese Begriffe acCeptiert,-wird in der Hauptsache
davon abhängen, ob man der oben angegebenen Unterscheidung der Sinne sich anschliesst. Abweichungen
von derselben würden sich im weiteren Vbrlaufe meiner Abhandlung nur in der Weise geltend
machen, dass man die Sinne und Sinnesorgane anders benennen würde, als ich es thun zu müssen
glaube; sachliche Differenzen werden dadurch nicht bedingt sein: die Thatsache, dass die Spezialisierung
und Differenzierung der Sinnesorgane sich in der Tierreihe erst allmählich herausbildet, dürfte
über allem Zweifel stehen.
D a s U n iv e rs a lsin n e so rg a n .
Als Uni ver sal si nneso rgan bezei chne ich d i ej en i gen Appar a t e eines l ebenden
Wesens , v e r m i t t e l s t deren von dem Wesen s ämt li che Gattung e n von Reizen
wahr genommen wer den , welche für das sel be übe r h aup t wahr n ehmba r sind, oder
mi t ander e n Wo r ten: Appa r at e , die sämt li chen S innen , welche ein We s en besi
t zt , als Or gan dienen. Es gieb t Wes en , welche ver schi edene Si nne besi tzen,
gl ei chwohl aber n u r mi t einer lei S inneso rganen a u s g e s t a t t e t sind.
Im vorhergehenden Abschnitt habe ich erwähnt, dass wir die ersten Anfänge desjenigen
psychischen Parallelvorganges bei Eintritt einer physiologischen Erregung eines Wesens, welchen man
Empf indung nennt, schon in der Einzelzelle annehmen müssen. Empfindung wird stets nur durch
Einwirkung einer Kraft auf das lebende Wesen hervorgerufen (Reiz). Der Thatsache, dass verschiedenerlei
Kräfte (Reize) Empfindungen auslösen können, trugen wir damit Rechnung, dass wir
demselben verschiedene Sinne zuschrieben.
Die Sinnesthätigkeit ist stets an ein Si nneso rgan gebunden. Indem ich nun den Begriff
des Universalsinnesorganes aufstelle, behaupte ich, dass mehrerlei Kräfte in einem einzigen Sinnesorgane,
oder in einer einzigen Gattung von Sinnesorganen Empfindung hervorrufen können. Ich glaube
damit nur einer fast allgemein anerkannten Anschauung Ausdruck zu geben, denn wer den Protisten
oder einzelligen Wesen die Fähigkeit des Empfindens und damit der Sinnesthätigkeit zuschreibt,
muss wohl auch immer annehmen, dass das Organ der Sinnesthätigkeit bei diesen Wesen ein Universalsinnesorgan
ist. Dass zahlreiche Protisten auf mehrerlei Einflüsse der Aussenwelt (Licht, thermische,
mechanische, chemische Kräfte) in normaler physiologischer Weise reagieren, ist bekannt1),
') Die zahlreichen Arbeiten, welche die Existenz dieser verschiedenen Zellensinne beweisen, sind neuerdings
von 0 . H e r tw ig (134) so vollständig zusammengestellt, dass ich an Stelle der Wiederholung des dort gesagten auf
jenes vorzügliche Werk verweisen kann.
und trotzdem wird es niemand einfallen, den einen Teil etwa einer Amöbenzelle als Aufnahmestelle
für chemische, einen ändern für mechanische Reize zu betrachten. Der ganze Zellleib, oder
genauer genommen, dessen ganze Oberfläche, ist Aufnahmestelle beider, überhaupt aller wirksamen
Reizarten, ist somit ein Universalsinnesorgan. Wer der Unterscheidung der Sinne, wie ich sie oben
darlegte, zustimmt, wird auch, zum mindesten bei Protisten, die Existenz von Universalsinnesorganen
annehmen müssen. Den gleichen Zustand des Sinnesapparates haben wir bei denjenigen Tieren zu
erwarten, welche zwar mehrzellig sind, aber noch keine weitergehende Differenziation der Gewebe
zu Nerven und zu solchen Organen zeigen, die ausschliesslich oder vorzugsweise der Sinnesthätigkeit
dienen. Ja selbst bei Tieren, welche Nerven und Sinneszellen besitzen, nehme ich noch das Vorkommen
von Universalsinnesorganen als möglich an: bei gewissen niedrig organisierten Tieren dieser
Art sind die Sinneszellen noch geeignet, sämtliche Gattungen von Sinnesreizen, welche bei den Tieren
überhaupt als wirksam sich erweisen, zur Wahrnehmung zu bringen. Diese Zellen haben sich dann
insofern spezialisiert, als sie von den ursprünglichen Eigenschaften der Zelle nur eine, die der Sensibilität,
wohl entwickelt, die anderen dagegen mehr oder weniger eingebüsst haben. Universal ist
ihre Thätigkeit aber darum, weil sie sich nicht auf eine besondere Gattung von Sinnesreizen spezialisiert
haben, wie es bei den spezifischen Sinnesorganen der Fall ist, sondern noch einfach die Sinnesorgane
xax’ darstellen, welche für alle Reizarten empfindlich sind.
Diese Eigenschaft dachte ich zu fixieren, indem ich für Organe solcher Beschaffenheit einen
Namen wählte, der den Gegensatz zum hochgradig spezialisierten „spezifischen“ Sinnesorgane ausdrückt
J). Durch die Namengebung wird der Begriff, den ich, wie gesagt, als im Prinzip längst anerkannt
betrachte, schärfer präzisiert, als wenn man ihn immer erst umschreiben muss, sobald von
der Sinnesthätigkeit niederster Tiere die Rede ist.
Wie ist es nun möglich und wie ist es zu verstehen, dass ein einfach gebautes, vollends ein einzelliges
Tier mehrerlei Sinne besitzen kann ? Zunächst muss ich im Anschluss an das in den Vorbemerkungen
Gesagte betonen, dass mit dem Besitze mehrerer Sinne, d. h. der Fähigkeit die Einwirkung
von mehrerlei Kräften empfinden zu können, nicht notwendig die Fähigkeit verbunden ist, die Einwirkung
dieser verschiedenen Kräfte nun auch immer in verschiedener Weise zu empfinden.
Ein Tier, das durch Licht, Wärme, Druck und Geschmack zu Empfindungen veranlasst wird, kann
vielleicht nur zu zweierlei Arten von Empfindung befähigt sein, so dass je zwei dieser einwirkenden
Kräfte die gleiche Empfindung hervorrufen würden. Dass eine gewisse, wahrscheinlich hochgradige
Vereinfachung der Sinnesempfindungen bei niedersten Tieren vorliege, ist ja fast selbstverständlich.
Auf der ändern Seite muss aber hervorgehoben werden, dass selbst das einfachste Tier, ja
selbst die einzelne Zelle, sehr wohl die Eigenschaften in sich vereinigen kann, welche sie zu verschiedenerlei
Sinnesempfindungen befähigen: Um durch chemische Reize erregt werden zu können, muss
die Zelle einen Stoff enthalten, der durch bestimmte chemische Kräfte zersetzt oder sonstwie chemisch
verändert wird. Diesem Veränderungsvorgang kann ein psychischer Parallelvorgang entsprechen: ist
*) „Generalsinnesorgan“ wäre gleichbedeutend, doch kaum besser. Die Bezeichnung „Universalsinnesorgan“ ist
gewissermassen von E. Hä ek e l entlehnt, und zwar einem Satze seiner populären Schrift über „Ursprung und Entwickelung
der Sinneswerkzeuge“ : (pg. 26) „ebenso müssen wir die verschiedenen Sinneswerkzeuge, die ja eigentlich nichts
anderes als zusammengesetzte Nerven-Endausbreitungen sind, als lokale Sonderungen oder Differenzierungen eines universalen
Sinnesorganes, der äusseren Haut betrachten.“