
meine Annahme einer prälaotealen Dentition an, nämlich, • „dass jene Rudimentärzähncheii gerade
bei den Beutelthieren gefunden werden, welche im funktionirenden Gebiss nicht mehr die typische
Zahl der Schneidezähne 5, sondern weniger aufweisen, dass sie also zu d e r s e l b e n Reihe
gehören wie die funktionirenden und nichts anderes darstellen, als die jeweiligen rudimentär
gewordenen Incisivi der betreffenden Art.“ Ganz abgesehen von den Lageverhältnissen, den
Beziehungen zur Schmelzleiste und dem frühen Fertigwerden der besagten Vor-Milchzähne wird
dieser Einwand schon dadurch vollständig entkräftigt, dass, falls man D öderlein’s. Auffassung accep-
tiren wollte, man auch zu der Annahme gezwungen würde, dass; bei Myrmecobius z wei derselben
Dentition angehörige, untere Eckzähne (siehe oben pag. 90), Vorkommen! Auch S chwalbe’s Ansicht,
dass man versucht sein könnte, die Milchzähne der Chiroptera als prälacteale Reihe zu
deuten, wird entschieden durch alle ontogenetischen Thatsachen (vergleiche oben pag. 74—82)
widerlegt; auch die Consequenz dieser Annahme: die bleibenden Zähne der Fledermäuse, mit der
Milch-Dentition zu homologisiren ist ebenso unwahrscheinlich wie die Thatsäche, dass die Vor-
Milchzähne gerade bei dieser mit scharf differenzirtem, persistirendem Gebiss versehenen Säugethierordnung
am besten ausgebildet wären und. funktioniren sollten, was selbst bei den Beutelthieren
nicht der Fall ist. Kurz: wenn man S chwalbe’s Vermuthung acceptirte, wäre, das Zahnsystem
der Chiroptera, da es ausserdem nicht einen einzigen Zahn der zweiten Dentition aufzuweisen
hätte, ursprünglicher als irgend ein anderes Säugethiergebiss.
Fassen wir die hier vorgetragenen Beobachtungen kurz zusammen, so erhalten wir folgende
Uebersicht des Entwicklungsganges der vier bei den Säugethieren vorkommenden Dentitionen (Zahngenerationen),
welche — unabhängig von der bisher gebräuchlichen, von der Annahme nur zweier
Dentitionen bei den Säugern ausgehenden Nomenclatur — ihrem Alter nach als Dentition I—IV
bezeichnet werden können:
A) Marsupialia!).
De n t i t io n I (= Vor-Milchzähne) kommt im vordem Kiefertheilé béim Marsupium-
Jungen vor und zwar entweder als vollkommen verkalkte, aber rudimentäre und
niemals funktionirende Zähne in wechselnder Anzahl oder nur als .Sprossen, welche
labialwärts von der Schmelzleiste ausgehen.
De n t i t io n I I (= Milchgebiss): völlig ausgebildete Ante-Molaren und Molaren, welche
mit Ausnahme des P 3 während des ganzen Lebens persistiren.
De n t i t io n III (= Ersatzgebiss): von diesem hat sich erst e in Zahn (P 3) völlig
ausgebildet; die übrigen treten nur als knospenförmige. Schmelzkeime beim
jugendlichen Thiere auf.
B) Placentalia.
De n t i t i o n I erreicht nicht mehr das verkalkte Stadium2) sondern ist nur durch
mehr oder weniger deutliche, oberflächlich von der Labialfläche der Schmelzleiste
ausgehende Knospen während des Embryonallebens vertreten.
De n t i t i o n I I persistirt mit Ausnahme der Molaren bei keinem Placentalier während
des ganzen Lebens8), ist ausserdem von verschiedenartiger Dauer und Aus*)
Die Monotremata können aus Mangel an verwendbaren Untersuchungen einstweilen nicht berücksichtigt werden.
*) Betreffend der Befunde bei Mensch und Kaninchen siehe oben pag. 149.
®) Die Frage, ob die.Cetacea hiervon eine Ausnahme bilden oder nicht, ist oben. (pag.. 122, 143) besprochen worden.
bildung, so dass mehrere Reduktionsstufen unterschieden werden können, von
welchen wir hier folgende hervorheben:
a) Ein (z. B. P d 1 bei den meisten Säugethieren) oder mehrere Zähne
(Erinaceidae) fehlen in verkalktem Zustande gänzlich, ohne dass
die Dentition im übrigen rückgebildet zu sein braucht.
b) Die gesammte Dentition II mit Ausnahme der Molaren* ist mehr
oder weniger rudimentär z. B. Pinnipedia; bei einigen Formen wird
sie resorbirt ohne das Zahnfleisch durchbrochen zu haben, also ohne
jemals funktionirt zu haben, z. B. einige Phocidae, Nager und
Chiroptera!
e).Dentition II ist nur durch einen rudimentären, nie zum Durchbruch
kommenden Zahn, repräseritirt (Bradypus ?). -
d) Dentition.II -Jammer mit Ausnahme der Molaren — ist als verkalkte
Zahnserie gänzlich unterdrückt (Soricidae, viele Nager).
Den t i t io n I II verdrängt und ersetzt alle Ante-Molaren der Dentition I I und ist
zusammen mit den Molaren beim erwachsenen Individuum die allein funktionirende
Zahnserie1) ; vielleicht hat sich bei einigen Formen mit ebenso schwachen Molaren
wie Prämolaren (Orycteropus, Tatusia) im vordem Theile der Molarserie
eine Dentition I II ausgebildet.'
Den t i t io n IV ist meistens nur als lingualwärts von den Zähnen der Dentition ITT
auftretende mehr oder weniger starke Knospen vorhanden; manchmal gehen aus
diesen Knospen vollkommen ausgebildete Zähne hervor.
Die Genese der vier Zahngenerationen können wir uns nach dem Standpunkte unserer
jetzigen Kenntnisse folgendermaassen vorstellen: Bei dem Uebergange des Reptilien-ähnlichen Gebisses
der Säugethier Vorfahren in dasjenige der uns bekannten ältesten Säugethiere2) konnten
in Folge des Differenzirungsprozesses nicht alle Dentitionen mit hinüber genommen werden: die
Polyphyodontie machte einer Oligophyodontie Platz. Von diesen ererbten Zahngenerationen
ist im Laufe der Stammesentwicklung die älteste (Dentition I) völlig funktionslos geworden, so
dass sie heute nur noch in Resten — am vollständigsten, wie zu erwarten, bei einigen der
niedrigsten bekannten Säuger — auf frühen ontogenetischen Stadien vorhanden ist, während die
nächste (Dentition II) sich den neuen Forderungen anpasste und funktionirte ohne gewechselt
zu werden. Bei höherer Ausbildung machte sich in der Folge das Bedürfniss eines Ersatzes der
am längsten in Gebrauch stehenden vorderen Zähne' (Ante-Molaren) geltend: es entstand — vielleicht
in dem Maasse als Dentition I funktionslos wurde — als ein Neuerwerb der Säugethiere
die Dentition III , welche bei den Placentaliern ungehemmt sich entwickelte, während sie bei
Marsupialia in Folge der diesen Thieren eigenthümlichen Brutpflege nur unvollständig zur Ausbildung
kommen konnte. Gewissermaassen als ein „Zukunftsgebiss“ ist die noch in ihrer ersten
*) Wie oben (pag. 68) angegeben, ist bei Phocidae bisher keine Vermehrung der Zahnreihe durch retardirte
Milchzähne nachgewiesen worden. Nachträglich sei hier jedoch bemerkt, dass ich neuerdings bei einem Schädel von Phoca
fbetida labialwärts vom unteren P 2 einen stark abgekauten, grössen Milchzahn (also P d 2) vorgefunden habe. Ein
nennenswerther Einwand dürfte aber dem obigen Ausspruche aus einem solchen Befunde kaum erwachsen.
2) Vergleiche bezüglich dieses Punktes des’Näheren in meiner früheren Arbeit III, pag. 536—539.