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 Riech-  und  Schmeckorgans  Tastempfindungen  auslösen  können.  Jedenfalls  aber  ist  der Gegenbeweis  
 nicht  erbracht.  Selbst  wenn  es  jedoch  für  den  menschlichen  Organismus  nachgewiesen  wäre,  dass  
 die Geschmacksnerven  dem Tastsinne nicht  dienen können,  dürfte diese Anschauung noch nicht auf  die  
 niederen  Tiere  übertragen  werden.  Wir  haben  uns  zu  erinnern ,  dass  cs  selbst  bei  der  einzelnen  
 Zelle,  bei  Protisten,  nicht  nur  die  einfache  Fähigkeit  giebt,  Reize  zu  empfinden,  sondern schon  diese  
 elementaren Organismen vermögen  gewisse Reize  zu unterscheiden,  und  in mindestens  zwei Kategorien  
 zu  teilen.  Warum  sollte  die  Sinneszelle  eines  noch  niedrig  stehenden  Wirbellosen  diese  Fähigkeit  
 verloren  haben?  —  Dies  ist  freilich  keine  logisch  strenge  Beweisführung.  Es  kommt  mir  hier  aber  
 auch zunächst nicht  darauf  an,  den  e x a k te n   Beweis  dafür  zu  liefern,  dass es Wechselsinnesorgane  
 giebt.  Ich  stelle  diesen  Begriff  vielmehr  als  ein  aus  allgemeinen Grundsätzen  der  Entwicklungslehre  
 sich  ergebendes  Postulat  hin,  und  habe  nur  nachzuweisen,  dass  seine  Aufstellung  nicht  mit  den  
 feststehenden  Lehren  der  allgemeinen  Sinnesphysiologie  in  Widerspruch  steht. 
 Kehren wir  zurück  zu  dem  angeführten  Beispiel  eines  Wechselsinnesorganes,  dem  Gaumenorgane  
 der  Insekten. 
 Für  die  erste  mögliche Annahme,  dass der inadäquate mechanische Reiz gar keine Empfindung  
 wachruft,  fehlte,  wie  gesagt,  jeder  thatsächliche  Anhalt.  Eine zweite Möglichkeit  wäre noch  die,  dass  
 derselbe  zwar  eine  Empfindung  erzeugt,  indessen  diejenige  spezifische  Empfindung,  welche  sonst  der  
 adäquate  Reiz,  hier  also ein Geschmacksreiz,  bewirkt.  Die Unhaltbarkeit  dieser Annahme  beweist  indessen  
 sofort  die Beobachtung  und  der Versuch  an  lebenden Tieren:  Wäre  es  so,  wie  ich  eben  voraussetzte, 
   so  fehlte  dem  Tiere  die  Möglichkeit,  zu  erkennen,  ob  der  im  Munde  befindliche  Bissen  
 Geschmack  habe  oder  nicht;  dies  ist  jedoch  nicht  der  Fall:  Insekten  erkennen  es  deutlich,  wenn  
 man  ihnen  geschmacklose  Stoffe  als  Nahrung  unterzuschieben  sucht,  wie  ich  es  für  Wasserkäfer  
 nachgewiesen  habe. 
 Als  die  wahrscheinlichste  Annahme  bleibt  darum  die  dritte,  dass  der mechanische  Reiz  für  
 diese  Geschmacksorgane  eben  gar  kein  inadäquater  ist,  sondern  dass  dieselben  zwei  oder  mehrere  
 adäquate  Reize  haben,  welche  sie  in  richtiger  Weise  zur  Empfindung  und  Wahrnehmung  bringen.  
 Diese  Hypothese,  hier  für bestimmte  Insektensinnesorgane  aufgestellt,  darf  nur  mit  Vorsicht  verallgemeinert  
 werden.  Z.  B.,  betrachten  wir  im  Gegensatz  zum  Insekteüschmeckorgan  dasjenige  des  
 Menschen,  so  finden  wir  in  den Pqpillae vallatae  die  Geschmackszellen schon mehr  vor Berührung  mit  
 mechanischen  Reizen  geschützt,  als  dort  die Geschmackskegel  am  Gaumen  der Insekten,  und  so wäre  
 es  eher erklärlich,  wenn  sie,  durch  irgend  welchen Zufall einmal mechanisch  gereizt,  mit Geschmacksempfindung  
 antworteten,  auf welche  sie allein eingeübt  sind.  Anders aber  ist es mit den Geschmacksnervenendigungen  
 auf  den vorderen Teilen  der Zunge;  dass diese nicht auf Berührung mit Geschmacksempfindung  
 reagieren,  davon  kann  man  sich  jeden  Augenblick  überzeugen.  Ob  sie  aber  an  dem  
 Zustandekommen  der  Berührungsempfindung  beteiligt  sind,  muss  noch  dahin  gestellt  bleiben. 
 Auch  auf  die  niederen  Wirbellosen  möchte  ich  die  obenstehenden  Deduktionen  nicht  ohne  
 weiteres  übertragen.  Ich  glaube  vielmehr,  dass  hier  noch  primitivere  Verhältnisse  obwalten,  als  bei  
 den  Insektensinnesorganen.  Mit  sehr  grösser  Wahrscheinlichkeit  dürfen wir  voraussetzen,  dass,  wie  
 die  Sinnesapparate  beim  Absteigen  in  der  Tierreihe  immer  einfacher  gefunden  werden,  so  auch  die  
 durch  dieselben vermittelten  Empfindungen weniger  differenziert  sind.  Dieser Gedanke  ist  es,  auf  den  
 R a n k e   in  seinen  „Beiträgen  zu  der  Lehre  von  den Übergangssinnesorganen“  hinauskommt,  wie  ich  
 schon  oben  zu  erwähnen  Gelegenheit  hatte.  R a n k e   sieht  eine  Haupteigenschaft  des  Systems  der 
 Sinnesorgane  niederer  Tiere  darin,  dass  die  verschiedenen  Empfindungsqualitäten  mehr  in  eins  verschmelzen. 
   Sie  sollen  aus  einem  gemeinsamen  Ursprünge  hervorgehen,  dem  sogenannten  Gemeingefühl. 
   Dieses  Wort  wird  in solchen Fällen  mit Vorliebe verwendet,  was  es  aber eigentlich bedeutet,  
 weiss  niemand  recht,  auch  wird  es  in  verschiedener  Bedeutung  gefasst.  Wenn  es  den  Punkt  bezeichnen  
 soll,  wo  alle  Empfindungsqualitäten  in  einander  fliessen,  so  glaube  ich,  dürfen  wir  ihm  die  
 Existenzberechtigung  ruhig  absprechen.  Denn  wo  sich  Empfindung  findet,  oder  sagen  wir  besser:  
 wo  sich  Äusserungen  von  Empfindlichkeit  finden,  da  begegnen  wir  auch  immer  schon  der  Fähigkeit,  
 auf  verschiedene  Reize  in  verschiedener Weise  zu  reagieren,  woraus  wir  folgerichtig  schliessen,  dass  
 auch  schon  in  verschiedener  Weise  empfunden  wird.  In  soweit  stimme  ich  R an k e   und  den  sonstigen  
 Vertretern  seiner  Anschauung  zu,  als  ich  ebenfalls  glaube,  dass  bei  niederen  Tieren  die  Zahl  
 der  unterscheidbaren  Modalitäten  und  Qualitäten  geringer  ist,  als  beim  Menschen,  und  dass  auch  
 vielleicht,  wenn  ich  so  sagen  darf,  die  Verschiedenheit  der  einzelnen Modalitäten  geringer  ist.1)  Dagegen  
 bestreite ich,  dass die Empfindung,  welche  das  Acridierohr vermittelt,  von  dem Tiere nicht unbedingt  
 von Tasteindrücken unterschieden werden könne,  und  ebenso,  dass Geschmacksreize und Lichteindrücke, 
   aufs Auge  des  Egels  wirkend,  die  gleiche  oder  „eine  ähnliche“  Empfindung  erzeugen.  Abgesehen  
 davon,  dass  hierdurch  auffallende  Sinnestäuschungen eintreten  müssten,  welche  wir  in  Wirklichkeit  
 nicht  beobachten,  sehe  ich  auch  keinen  Grund,  die  Fähigkeit  verschiedener  Empfindungen  
 bei  jenen  Tieren  zu  läugnen.  Wir  haben  keine Zeichen  für  diesen höchsten  Grad  der Vereinfachung  
 der  Sinnesthätigkeit,  ja  nicht  einmal  Zeichen  für  überhaupt  irgendwelche  Vereinfachung  der  Sinnesempfindung. 
   Keine  Beobachtung  wüsste  ich  zu  nennen,  die  in  diesem  Sinne  zu  deuten  wäre.  
 Gleichwohl  wird  ja  allgemein,  und  auch  von  mir,  angenommen,  dass  die  Sinnesthätigkeiten  der  niederen  
 Tiere  innerhalb  engerer  Grenzen  sich abspielen.  Die Gründe hiefür  liegen indessen  auf morphologischem  
 Gebiete und  haben somit nicht  den  vollen Wert,  wie  wenn Versuche  in  dieser  Hinsicht  Anhaltspunkte  
 gäben.  Die  Gleichartigkeit  der  Sinnesorgane  in  der Haut  einer  Actinie,  einer  Rippenqualle  
 oder  auch  noch  eines  Amphioxus  und  Regenwurms  legen  den  Gedanken  nahe,  dass  in  der  
 Sinnesempfindung  dieser  Tiere  eine  ähnliche  Monotonie herrsche,  wie  im  Bau  ihrer  Sinnesapparate.  
 Von  der  üblichen  Auffassung,  speziell  derjenigen  R a n k o ’ s,  weiche  ich  nun  aber  in  sofern  ab,  als  
 ich  doch  nicht  glauben  kann,  dass  die  anatomische  Gestaltentwicklung  und  die  Differenzierung  der  
 Funktionen  der Sinnesorgane parallel  neben einander herlaufen und  gleichen Schritt  halten.  Viel  wahrscheinlicher  
 ist es mir, dass die Differenzierung der Funktion früher beginnt und sie erst die Form und die  
 äusseren Eigenschaften der Organe bedingt.  Dieser Gedanke ist bekanntlich  von  E im e r als  b io lo g isc 
 h e s  G ru n d g e s e tz   zuerst in  feste Form gefasst.  Der allgemein giltige Satz Ei m er’s , 2)  dass „die  
 T h ä tig k e it,  die  F u n k tio n   die  o rg an isch e   od e r  p h y sio lo g isch e   A u sb ild u n g   e rs t 
 H   Eine  Erscheinung,  die  eine  solche  Verminderung  der  Verschiedenheit  zweier  Empfindungsarten  unserem  Begreifen  
 näher  rückt,  kann  man  in  der  Farbenblindkeit  geringeren  Grades  erkennen.  Der  in  mässigem  Grade  Rotgrünblinde  
 kann  Rot  und  Grün  oft  mit  Sicherheit  unterscheiden,  die  beiden  Farben  erscheinen  ihm  aber  weit  „weniger  verschieden,“ 
   als  Blau  und  Gelb,  oder  Blau  und  Rot.  Ich  spreche  aus  eigener  Erfahrung,  und  höre  von  Nichtfarbenblinden  
 sagen,  dass  ihnen  der  Unterschied  zwischen  Rot  und  Grün  nicht  geringer  erscheine,  als  zwischen  Blau  und  Gelb.  Dass  
 es  eine  Nuance  des  Grünen  giebt,  die  dem  Roten  oder  Braunen  „zum  Verwechseln  ähnlich“  ist,  wie  es Farbenblinde  wohl  
 angeben,  ist  dem  Normalempfindenden  durchaus  unbegreiflich.  Ähnlich  wie  zwischen  farbenblindem  und  normalem  Auge  
 mag  nun  auch  das Verhältnis  zwischen  dem  Sinnesorgane  eines  niedriger  und  eines  höher  organisierten  Tieres  sein.  Die  
 Farbenblindheit  zeigt  uns,  dass  eine  solche  Vereinfachung  des  Empfindungskreises  selbst  beim  Menschen  vorkommt.  Wie  
 viel  mehr mag  sie  im  Tierreiche  Vorkommen. 
 2)  Th.  E im e r ,  die  Entstehung  der  Arten.  Jena.  G.  Fischer  1888.