Auftretens des Schmelzleistenendes lingüalwärts von M 1 und 2 bei Didelphys rechnet
K ükenthal (I) die Molaren zur ersten Dentition. Da K.’s Beweisführung sich lediglich auf die
Annahme stützt, dass das Auftreten eines freien Schmelzleistenendes lingüalwärts von einer
Zahnanlage diese unbedingt zu einem Milchzahne stempelt, und. ich die Unzulänglichkeit dieser
Argumentation schon oben (pag. 132 — 135) nachgewiesen habe, brauche ich nicht auf diesen
Punkt zurückzukommen. In seiner Arbeit über die Walthiere (II, pag. 448) behauptet er, dass
der Hauptunterschied zwischen Molaren und Prämolaren darin besteht, „dass erstere aus beiden
verschmolzenen Dentitionen bestehen, während sie bei letzteren getrennt bleiben und jede für
sich zur Entwickelung kommt, und ich (K ükenthal) halte daher den so beliebten Streit, ob die
Molaren der ersten oder zweiten Dentition zuzurechnen sind, für vollkommen überflüssig.“ Wir
haben ebenfalls im vorigen kennen gelernt, dass K ükenthal etwas später (III) seine Ansicht
dahin modifizirt, dass allerdings die echten Molaren „im wesentlichen“ zur ersten Dentition gehören,
aber zugleich (pag. 110) dass sie „ein Verschmelzungsprodukt der Anlagen erster Dentition
mit dem Materiale, aus dem sonst die zweite Dentition entsteht, darstellen.“ Es scheint mir
jedoch, dass dieser zweite Ausspruch einigermassen im Widerspruche mit dem Faktum steht, auf
das K. den ersten stützt, nämlich dass ein freies Schmelzleistenende lingüalwärts von M 1 vorhanden
ist (vergl. auch oben pag. 70). Während R öse die Molaren der Beutelthiere der ersten
Dentition zuzählt, betrachtet er in einer seiner neuesten Arbeiten (XIII) dieselben überhaupt
als die „seitlichen Endglieder besonderer Dentitionen. So liegt beim Menschen die Dentition,
von der Molar 1 das Endglied ist, zwischen der ersten und zweiten Dentition.“ 'Doch giebt R.
gleichzeitig zu, dass, falls man die Molaren „aus Zweckmässigkeitsgründen in die althergebrachten
beiden Dentitionen einreihen will, dieselben zweifellos zur ersten oder Milchzahnserie gerechnet
werden müssen.“ S chwalbe (I) fasst sowohl Molaren als Milchmolaren (beim Menschen) als der
ersten und zweiten Dentition gemeinsam angehörig auf, und zwar entspricht die labiale Reihe
ihrer Höcker der ersten, die linguale der zweiten Dentition.
In meinen Arbeiten über die Entwicklung des Zahnsystems (III, IV) habe ich meine
frühere Annahme zu begründen versucht, dass die Molaren der ersten Dentition angehören, also
„Milchzähne ohne verkalkte Nachfolger“ sind, welcher Ansicht sich neuerdings H opfmann auf
Grund eigener Untersuchungen anschliesst. Für die Beurtheilung dieser Frage sind die folgenden,
in der vorhergehenden Darstellung behandelten Thatsachen von Bedeutung.
Auf das Verhalten zur Schmelzleiste, welches völlig dasselbe ist wie das der Milchbackenzähne
es tr itt dies besonders bei Horizontal- und Sagittalschnittserien (Fig. 11, 12, 16) hervor
— habe ich früher mehr Gewicht gelegt, als mir jetzt, nachdem sich dieses Criterium bei
anderen Zähnen als nicht zuverlässig erwiesen hat, gerechtfertigt erscheint. Dagegen erhellt
aus diesen Bildern die wichtige zuerst von P ouchet & Chabry beim Schafe, dann von R öse (I)
beim Menschen nachgewiesene Thatsache, dass die Molaren — den älteren Angaben entgegen S
sich direct aus der Schmelzleiste differenziren. Dies gilt für al le Säugethiere. Die abweichende
Lage der Leiste im Verhältniss zum Schmelzkeim des M 1 und 2 ist bemerkenswerth ohne
principiell bedeutungsvoll zu sein: wenn der Schmelzkeim anfängt sich von der Leiste zu emanci-
piren, kommt das freie Ende nicht neben dem Molaren wie bei den Milchbackenzähnen sondern
oberflächlich von demselben zum Vorschein; die freie Spitze ist stets lingüalwärts gerichtet
(Textfig. 2—4, Fig. 24, 25,. 88, 113). Die Ursache dieses Verhaltens, welches sowohl beiJVlar-
supialia als Placentalia vorkommt, ist zweifelsohne in der bedeutenderen Grösse, welche die
Molaren, verglichen mit den vorstehenden Milchzähnen, erlangen, zu suchen. Eine Bekräftigung
dieser Deutung giebt die Thatsache, dass da, wo die Molaren schwach sind (z.B. bei Desmodus),
das Verhalten zwischen Schmelzkeim und Leiste mehr mit dem bei anderen Zähnen übereinstimmt.
Das Vorkommen eines freien Schmelzleistenendes habe ich wenigstens bei M 1 und 2 an
a ll e n von mir untersuchten Formen gefunden; bei mehreren Thieren (Fig. 88, 113, 120) fand
ich besagtes Ende deutlich knospenförmig angeschwollen. Dass die Schmelzleiste nicht einmal im
Bereiche des letzten Molaren ihre Produktionskraft erschöpft zu haben braucht, beweist das Verhalten
bei Scalops, wo die Schmelzleiste mit zahlreichen und starken Anschwellungen sich neben
dem bereits glockenförmigen M 3 erhält (Textfig. 12).
In diesem Zusammenhänge haben wir a¿nch des Orts der Anlage des M 3 zu gedenken:
die Schmelzleiste. schwillt noch im Bereiche des M 2 zu einem deutlichen Schmelzkeime (M 3)
an, welcher oberflächlich vom M 2 zu liegen kommt (Fig. 26, 33, 80), eine Lage, die offenbar
dadurch bedingt wird, dass zur Zeit der Entstehung des M 3 hinter M 2 noch kein Platz im
Kiefer ist. Selbstverständlich wird durch diese abweichende Lage, welche den M 3 überall, wo
er hierauf untersucht ist (auch bei Didelphys), auszeichnet, die Zugehörigkeit des M 3 zu derselben
Serie wie die anderen Molaren nicht in Frage gesetzt.
Den Umstand, dass der hinterste Milchmolar meist grössere Uebereinstimmung mit dem
ersten Molaren als mit dem entsprechenden Ersatzzahne darbietet, möchte ich nicht als einen
direkten Beweis für die Zusammengehörigkeit besagter Zähne anführen, da diese Uebereinstimmung,
wie bereits W inge (I) hervorgehoben hat, eher dadurch veranlasst sein kann, dass der
letzte Milchzahn eine Zeit lang eine dem ersten Molaren ähnliche Funktion auszuüben hat.
Wenn somit die bisher angeführten Thatsachen keine stichhaltigen Argumente für die
Zugehörigkeit der Molaren zur ersten Dentition abzugeben im .Stande sind, so machen dagegen
die beiden folgenden Momente diese Annahme im hohen Grade wahrscheinlich:
1) Da alle Thatsachen für die Auffassung sprechen, dass bei den Marsupialia dié persi-
stirenden Ante-Molaren (mit Ausnahme des P 3) der ersten Dentition der Placentalia entsprechen,
kann man, wie auch T homas (V) hervorgehoben hat, keinen stichhaltigen Grund für die Annahme
•anführen, dass bei diesen Thieren die Molaren, welche sich völlig in derselben Weise wie jene
anlegen und zusammen mit diesen zeitlebens funktioniren, einer späteren Zahngeneration (also
der zweiten) angehören sollten. Da nun die Homologie der Molaren bei Marsupialia und Placentalia
nicht wohl bezweifelt werden kann, sind wir zur Annahme gezwungen, dass die Molaren
bei allen Säugern der ersten Dentition angehören.
2) Einen direkten Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht giebt das oben (pag. 69)
dargelegte Verhalten des M 1 bei Phoca. Faktisch — d. h. wenn es sich um Darstellung des
thatsächlichen Befundes handelt — verhält sich dieser Zahn zu seinem Ersatzzahne ganz wie
ein Milchzahn. Ist nun, wie kaum zu bezweifeln, M 1 der Phocidae dem M 1 der übrigen
Säugethiere homolog, so hat die Annahme, dass M l — und desshalb auch M 2 + 3 (+4) — der ersten
und nicht der zweiten Dentition angehören, eine glänzende Bestätigung gefunden.
Aus diesem Funde, zusammengehalten mit dem oben erwähnten constanten Vorkommen
eines freien, manchmal knospenförmig angeschwollenen Schmelzleistenendes lingüalwärts von den
Molaranlagen, erhellt somit auch, dass eine Verschmelzung von mehreren Zahnserien, wie einige
Forscher wollen, im Bereiche der Molaren ebensowenig wie bei den Prämolaren vorkommt; vergleiche
auch die Ausführungen oben pag. 70r