Schliesslich hahen wir noch des von mir als' P 1 gedeuteten Zahnes zu gedenken. Wie
aus der oben gegebenen Beschreibung hervorgeht, habe ich die allmählige Ausbildung dieses
Zahnes von seiner ersten Anlage bis zum fast fertigen Stadium verfolgen können, Yon allen
Ersatzzähnen wird er zuerst fertig. Er unterscheidet sieh ausserdem von den Prämolaren 2 .-4 .
dadurch, dass er sich viel oberflächlicher, unmittelbar unter dem Mundhöhlenepithel anlegt und
entwickelt. In diesem Punkte stimmt er völlig mit P 1 beim Hunde (siehe oben pag. 60) sowie
mit denjenigen Zähnen von Erinaceus (siehe oben pag. 38), bei welchen kein Zahnwechsel erfolgt,
überein. Bei Phoca wird aber seine Zugehörigkeit zu den Prämolaren nicht nur durch diese seine
abweichende Lage während der Entwicklung und durch sein späteres Auftreten sondern auch
durch seinen von den Milchbackenzähnen verschiedenen Habitus mit Entschiedenheit dokumentirt.
Es dürfte wohl auch als wahrscheinlich angenommen werden, dass bei den übrigen Säugethieren,
bei denen der vorderste Backenzahn nicht gewechselt wird, dieser ebenfalls den Prämolaren zuzuzählen
ist, wenn auch erneuerte Untersuchungen für die endgültige Entscheidung der Frage
noch noth wendig sind. Bei allen solchen Thieren ist P I — und dies gilt auch für Phoca und
Canis — jedenfalls zu denjenigen Zähnen zu zählen, welche nicht mehr auf der vollen Höhe ihrer
Funktion stehen, sondern bereits in verschiedenem G-rade degenerirt sind und deshalb auch den
entsprechenden Vertreter der minderwerthigen ersten Dentition entbehren können.
T auber (II) is t bei Phoca groenlandica zu einem abweichenden Resultate gekommen, indem
er sowohl oben wie unten Spuren eines Vorgängers gefunden zu haben angiebt. Schon S ahlertz
(II) hat diese Angaben einer Kritik unterworfen und T. die Berechtigung abgesprochen aus
diesen mindestens zweifelhaften Befunden Schlüsse zu ziehen. Nach meinen wiederholten Erfahrungen
betreffs des Werthes der Angaben T auber’s (siehe oben pag. 34, 47—49,. 60, 71 und III
pag. 524) glaube ich ein Recht zu haben, so beschaffene Resultate dieses Autors nicht als gesicherte
wissenschaftliche Errungenschaften anzusehen. K ükenthal (III pagf||09) ist bezüglich dieses
Punktes zu folgendem Ergebniss gelangt: „Sehr stark verzögert erscheint die Anlage des ersten
Prämolaren, der in den beiden ersten Stadien noch auf dem kolbenförmigen Stadium steht,
während die anderen Zähne bereits einen viel höheren Ausbildungsgrad erreicht haben. Der
häufigen Angabe gegenüber, dass der erste Prämolar nur in der zweiten Dentition vorkomme,
ist daraufhin zu verweisen, dass seine wohlausgebildete Anlage, welche sich in meinem grössten
Stadium vorfindet, der ersten Dentition zugehört, was unwiderleglich daraus hervorgeht, dass
seitlich nach innen von ihr sich die freie Zahnleiste ein Stück fortsetzt.“ Ich kann dem gegenüber
nur cönstatiren, dass die von K ükenthal als erste Prämolaren *) beschriebene Anlage nichts
anderes sein kann, als die der zweiten Dentition angehörige Anlage des P 1, wie ich sie bis
zur fast völligen Ausbildung habe verfolgen können (vergleiche oben). Eine freie, nach
in n e n von ihr abgehende Zahnleiste kann seiner Auffassung unmöglich als Stütze dienen.
K ükenthal’s Angaben sind in diesem Punkte jedenfalls etwas schwer verständlich. Auf Seite 104
erwähnt er dagegen: „Noch ist zu bemerken, dass sich nach aussen von der Zahnanlage [des
ersten Prämolaren] ein starker Strang von der Zahnleiste abzweigt, der in einer Anschwellung
endigt.“ Allerdings fand auch ich auf einigen Schnitten labialwärts von P 1 Epithelpartieen,
welche als Reste eines Schmelzkeimes des P d 1 gedeutet werden könnten. Doch da, wie
1) Es ist zu bemerken, dass K ü k e n th a l auch die von ihm als Milchbackenzähne gedeuteten Anlagen als
„Prämolaren“ bezeichnet.
wir gesehen haben, zahlreiche Lateralsprossen an der Schmelzleiste auch oberflächlich von den
ändern Schmelzkeimen vorhanden sind, scheint mir eine solche Deutung in diesem Falle etwas
willkürlich zu sein.
Aus dem obigen dürfte jedenfalls hervorgehen, dass die unzweifelhafte Anlage eines Pd 1
weder bei Phoca noch beim Hunde bisher nachgewiesen worden ist, womit ich selbstverständlich
nicht die M ö g lic h k e it ihres Vorkommens in Abrede stellen will.
Was die eben erwähnten Sprossen betrifft, welche besonders auf den älteren Entwicklungsstadien
in grösser Anzahl vom oberflächlichen und labialen Theile der Schmelzleiste abgehen —
sie sind bekanntlich auch bei anderen Thieren beobachtet—, so können sie allerdings, wenigstens
zum Theil, als Reste von den der ersten Dentition vorangegangenen Zahnanlagen gedeutet werden.
Doch habe ich an diesem Objecte keine so unzweideutige Belegstücke für das Vorkommen einer
solchen zeitigeren Dentition nachweisen können, wie bei anderen Formen (siehe IV und unten).
Aus der vorliegenden Darstellung können wir jedenfalls entnehmen, dass die Entwicklungsgeschichte
des Zahnsystems der Pinnipedia im hohen Maasse unsere Aufmerksamkeit verdient,
da diese Thiere zu denjenigen gehören, deren Gebiss sich in besonders lebhaftem Flusse befindet.
Bibliotheca zoologica. Heft 17. 10