T omes als auch die mehr einzelnen Gruppen gewidmeten, theilweise glänzenden Untersuchungen eines
R ütimeyer, F lower, W. K owalevski u . a. enthalten, gelang es der vergleichenden Anatomie des Zahn-
systemes nur in geringem Maasse in den Gesichts- und Arbeitskreis der eigentlich vergleichenden
Anatomie zu dringen; dieselbe hat sich jedenfalls bei weitem nicht der gleichen Theilnahme von
Seiten der modernen Morphologie zu erfreuen gehabt wie andere Gebiete unserer Wissenschaft.
Nirgends — es müsste denn in den entlegensten Winkeln der Entomologie oder Ornithologie
sein — hat eine geistlose „Zoographie“ solche Orgien gefeiert, nirgends hat die Kenntniss die
Erkenntniss so gewaltig überflügelt wie in den „Zahnbeschreibungen, während anderseits dilet-
tantenhaft und ziemlich wohlfeil konstruirte „Zahnphilosophien“ um so üppiger wucherten, als
bei Untersuchung des Gebisses nicht einmal die einfachste Präparation den kühnen Gedankenflug
zu hemmen braucht. Kein Wunder, wenn das ganze Gebiet gewissermassen diskreditirt wurde.
Nach langer Zwischenzeit ist in den allerletzten Jahren ein Umschwung zu verzeichnen.
Sowohl durch Anwendung allgemeinerer Gesichtspunkte und strengerer Vergleichungsmethoden als
auch vornehmlich durch die an die älteren Untersuchungen W^aldeyer s , K ölliker s und K ollmann s
sich anschliessenden neuen Forschungen auf dem Gebiete der Zahnentwicklung ist das Interesse
auch weiterer Kreise wieder an das Zahnsystem gelenkt worden. Es sind hier unter ändern die
Untersuchungen von R yder, Cope, W inge, T homas, S chlosser, Osborn, R öse und K ükenthal zu
nennen. Noch sind allerdings der wirklich gesicherten Errungenschaften dieser Arbeit zu wenige
und die Diskussion über viele Cardinalpunkte ist noch zu lebhaft, als dass eine Einigung in
Bälde erzielt werden könnte. Wir müssen uns einstweilen mit der Zuversicht begnügen, dass
ein allseitiges und methodisches Forschen, wie es nunmehr in Angriff genommen ist, den oder
die Wege, welche zum Ziele führen, entdecken wird, wenn auch meiner Meinung nach diese Wege
bedeutend länger und schwieriger sind, als man sich im allgemeinen vorstellt.
Bei kaum einem ändern Organsysteme liegt die Gefahr Konvergenzerscheinungen mit
Homologien zu verwechseln näher als beim Gebiss, denn kaum ein anderes ist weniger konservativ,
giebt gefügiger und vollständiger auch den leisesten äusseren Impulsen nach. So treffen
wir denn auch bei Thierformen, deren Verwandtschaftsbeziehungen durch die später erfolgte
Untersuchung der übrigen Organisationsverhältnisse sicher erkannt sind, manchmal solche Umgestaltungen
im Gebiss an, dass die auf letzteres gegründeten Ansichten über die Genealogie
dieser Thiere sich als durchaus verfehlt erwiesen haben. Zum Beweise erinnere ich nur daran,
wie auf Grund der Beschaffenheit des Gebisses die Viverride Arctictis zu den Procyoniden, die
Procyonide Bassaris dagegen zu den Viverriden, die Viverride Eüpleres zu den Insectivoren und
endlich der Halbaffe Chiromys zu den Nagern gestellt worden sind. Ferner werden alle, welche
sich eingehender mit der Morphologie des Gebisses beschäftigt haben, die Erfahrung gemacht
haben, wie schwierig es gerade bei diesem Organsystem zu entscheiden ist, welches die primitivere
und welches die mehr modernisirte Form ist, ob sich ein gegebenes Gebiss, respektive ein Theil
desselben, in progressiver oder in regressiver Richtung bewegt.
Nichts desto weniger dürfte die morphologische Bewältigung und Erkenntniss des Zahnsystems
schon aus dem Grunde als ein dringendes Desideratum der modernen Zoologie bezeichnet
werden können, als wir das Zahnsystem für die Feststellung der Genealogie der Säugethiere
schlechterdings nicht entbehren können. Die Berechtigung dieser Forderung geht aus folgender
Ueberlegung hervor. Erstens besitzen wir zur Zeit von den historisch ältesten d. h. den mesozoischen
Säugethieren keine morphologisch brauchbareren Reste als das Gebiss, und da trotz der
gewaltigen Mehrung der palaeontologischen Funde während der letzten Jahre noch nichts besseres
befördert worden ist, so sind die Aussichten auf künftige werthvollere Funde nicht gerade
günstig; dasselbe gilt übrigens auch in Bezug auf recht viele tertiäre Formen. Die grösste Bedeutung
des Gebisses aber als eine der hauptsächlichsten, wenn nicht die hauptsächlichste Handhabe
für die Erschliessung des r e a le n d. h. des h i s to r is c h e n (geologischen) Vorganges bei
der Entwicklung der Säugethiere liegt darin, dass das G eb is s — abgesehen th e ilw e is e vom
Skelett d a s e in z ig e O rg a n s y s tem den W i r b e l th ie r e i s t , an dem es m ö g lich
i s t , d ie O n to g en e se , wie sie sic h im s. g. M ilc h g e b is s m a n i f e s t i r t, m it w ir k l
ic h e r , h i s to r i s c h e r P h y lo g e n e s e (d. h. S tam m e s g e s c h ic h te g e s t ü t z t a u f p a -
la e o n to lo g is c h e , n ic h t b lo s v e rg le ic h e n d - a n a tom is c h e Be funde) d i r e k t mit
e in a n d e r zu v e rg le ic h e n . Mit ändern Worten: wir sind im Stande die in d iv id u e ll
frühere Entwicklungsstufe (d.h. Milchgebiss) mit der h i s to r i s c h früheren (fossile Formen) unmittelbar
zu vergleichen, ganz abgesehen davon, dass selbst bei Thieren auf der historisch
früheren Entwicklungsstufe auch die individuell frühere in zahlreichen Fällen der Untersuchung
zugängig ist: hat man doch selbst bei einzelnen Säugethierkiefern der Juraperiode einen Zahnwechsel
nachweisen können. Die eminente Bedeutung des Zahnsystems für die Genealogie der
Säugethierwelt ist somit unbestreitbar — und nicht am wenigsten deshalb, weil wir in diesem
Organsysteme, unter Voraussetzung richtiger Werthschätzung, durch einen vorzüglichen Prüfstein
für die Tragweite des biogenetischen Satzes haben.
Meiner Ansicht nach muss es daher unsere nächste Aufgabe sein C r i t e r i e n f ü r die
m o rp h o lo g is c h e W e r th s c h ä tz u n g d e s Z a h n s y s tem s zu gewinnen. Drei Hauptfragen
sind es, die uns zunächst entgegentreten:
1) Nach welchen Gesetzen die Veränderungen des Zahnsystemes innerhalb natürlicher
Thiergruppen vor sich gehen (also Criterien für die Entscheidung der Frage, ob im. gegebenen
Falle progressive oder regressive Entwicklung vorliegt, ob Krone oder Wurzel der conservativere
Theil ist und dergleichen mehr).
2) Wie hoch der Grad der Uebereinstimmung ist, welche durch Convergenz geschaffen
werden kann.
3) Besonders dringend ist zufolge der oben dargelegten Gesichtspunkte, die Erkenntniss
der morphologischen Bedeutung des s. g. Milchgebisses und der Beziehungen desselben zum Ersatzgebisse
sowohl in ontogenetischer als anatomischer Hinsicht, oder mit ändern Worten: die Feststellung
sowohl der embryologischen Entstehung und des Verhaltens der Milch- und Ersatzzähne
zu einander während der Ontogenese, als auch der Anzahl und Gestaltung der Zähne des Milchgebisses
verglichen mit denen des Ersatzgebisses.
Die hier kurz vorgetragene Auffassung betreffs der Untersuchungsmethode hat sich allmählich
bei mir in der langen Zeit entwickelt, während welcher ich mich — allerdings mit vielen
und langwierigen Unterbrechungen und oft unter ziemlich resultatlosem Urahertasten — bald
mehr speciell bald um Bausteine für die Genealogie einzelner Säugethiergruppen zu beschaffen mit
dem Studium des Zahnsystems beschäftigt habe. Ich hatte seit lange ein recht beträchtliches