dass die Sinnesempfindungen niederer Tiere weniger scharf von einander geschieden sind, als diejenigen
der menschlichen Sinne, ist sehr wahrscheinlich, da ja die menschlichen Sinnesempfindungen, gleichwie
die Sinnesorgane, die Endglieder einer langen Entwicklungsreihe von den untersten Stufen des Tierreiches
herauf darstellen.
In der Physiologie der menschlichen Sinne liegt ein Bedürfnis nach einer scharfen Definition
und Abgrenzung der einzelnen Sinne nicht vor, diese erscheinen vielmehr als etwas gleichsam von
selbst gegebenes: wir glauben mit Bestimmtheit erkennen zu können, ob eine Wahrnehmung im einzelnen
Falle durch diesen oder jenen Sinn gemacht wurde. *) Von diesem Gesichtspunkte aus wird man
zuweilen geradezu „Sinn“ mit „Empfindungsqualität“ identifizieren hören. Diess scheint mir nun schon
an sich nicht zutreffend: Die Zahl der Empfindungsqualitäten ist weit grösser, als die der vom Sprachgebrauch
unterschiedenen Sinne. Der Sprachgebrauch fasst also immer je eine Gruppe von Qualitäten
zu einem Sinne zusammen. Aber auch abgesehen davon, wie soll man, wenn die einzelnen
Sinne nach der ihnen eigenen Empfindungsqualität definiert werden, dieses Prinzip auch in der vergleichenden
Sinnesphysiologio durchführen? Da wir von den Empfindungen eines fremden Wesens uns
keine Rechenschaft geben können, fehlte uns dann jegliches Mittel, zu bestimmen, durch welchen Sinn
ein Tier eine bestimmte Wahrnehmung gemacht hat. Thatsächlich sagt man ja auch nicht erst dann,
ein Tier habe gehört, wenn es diejenige Empfindung gehabt hat, welche wir Schallempfindung nennen,
sondern wenn es einen Schall wahrgenommen hat. Riechen nennen wir es, wenn ein Tier einen
flüchtigen Stoff vermöge dessen chemischen Eigenschaften wahrgenommen hat. Abgesehen von einigen
notwendig werdenden Einschränkungen, auf welche ich alsbald zurückkomme, definiert man also in
der vergleichenden Physiologie die Sinne nicht nach der Empfindungsqualität, sondern nach der
Ur sache der Empf indung, nach der Reizform.
Für den Menschen macht es einen grossen Unterschied in der zu Stande kommenden Sinnesempfindung,
ob nur die von einer Stimmgabel ausgehenden Schallwellen sein Ohr treffen, oder ob
das schwirrende Instrument direkt die Haut berührt. Die beiden Empfindungen sind durchaus unvergleichbar.
Ebenso aber könnten Schallschwingungen bei Tieren sowohl spezifische Hör- wie Tastorgane
erregen; die Frage ist nun: dürften wir auch im letzteren Falle von Hören sprechen? —
Welcher Art die zu Stande kommende Sinnesempfindung ist, bleibt uns gänzlich verborgen, nach diesem
Gesichtspunkte ist es also nicht möglich, die Frage zu entscheiden. Ganz ebenso treten aber Schwierigkeiten
auf, wenn wir die Grenzgebiete anderer Sinne betrachten und sie bei Tieren aufsuchen. Diese
Schwierigkeiten nun scheint mir die Definition der tierischen Sinne nach der Reizform am besten zu
umgehen. Ich meine also: was uns zum Zwecke ve r gl e i chend physiologischer Unte r suchung
ei nzi g dazu dienen kann, die Sinne zu entscheiden, das ist nach der
oben gegebenen De f in i ti on von S i n n e s t h ä t i g k e i t im al lgemei nen, nicht die Ver schi
edenhei t der den e inzel nen Si nnen en tspr echenden Ver ä nde r ungen im psychischen
Zust ande, son d e r n die Ver schi edenhei t der Kr äf t e , welche die Änder ung
des Zust andes bedingten.
Nun sind aber, wie schon erwähnt, Einschränkungen, oder besser Vorsichtsmassregeln bei der
Grenzbestimmung der Sinne notwendig: "Wir nennen es z. B. nicht Riechen, wenn Ammoniakdämpfe
unsere Conjunctiva reizen, oder, wenn ein freipräparierter Froschnerv, in concentrierte Salzlösung
*) Dass dies in Wirklichkeit anders is t, wiruns also nicht selten über die Erregungen unserer Sinne täuschen,
davon werde ich noch weiter unten zu reden haben.
gelegt, erregt wird, sprechen wir nicht von Schmeckthätigkeit. Alle derartigen Fälle beruhen auf experimentell
physiologischer Nervenreizung, die bezeichnender Weise in ganz abnormen, eigentlich experimentell
pathologischen Zuständen ihren Ursprung hat. In keinem Teile der Physiologie ist es aber so sehr,
wie in der Sinnesphysiologie, notwendig, in erster Linie die normalen Lebensbedingungen vorauszusetzen
und die unter normalen Verhältnissen (wie sie das freilebende Tier findet) sich abspielenden Prozesse
zu erforschen. Dem unter normalen Bedingungen lebenden Tiere geschieht es nicht, dass sein Tastnerv
chemisch, sein Geschmacksnerv mechanisch erregt wird. Ausnahmen sind nur scheinbar vorhanden: der
Biss einer Giftschlange, der Stich einer Wespe gibt wohl Anlass zu chemischer Reizung der Hautnerven,
aber das ist experimentelle Pathologie, einmal von einem Experimentator aus dem Tierreiche ausgeführt.
Nichts anderes ist es, wenn ein Raubvogel seinem Opfer die Augen aushackt, wobei dasselbe
wohl Lichtblitze sehen mag. — Es wäre unbillig zu verlangen, dass eine Definition und Benennung der
Sinne auch solche Verhältnisse mit einbegreifen sollte. Das eine aber lehren uns Überlegungen von
der Art der vorstehenden, dass bei Experimenten über die Sinne der Tiere stets zu berücksichtigen
ist, ob nicht vielleicht durch das Experiment abnorme, pathologische Bedingungen geschaffen worden
sind. Wir kommen mit anderen Worten darauf hinaus, zu fragen, ob, wenn es gelingt festzustellen,
dass ein Sinnesorgan für einen bestimmten Reiz empfänglich ist, die Percept ion gerade dieser
Rei z a r t der Zweck oder die Best immung j e n es Organes ist. Diese teleologische Fragestellung
deckt sich in diesem Falle vollständig mit der Überlegung, ob die im Einzelfalle erzielte
Reizung auf normalen oder abnormen, natürlichen oder nur experimentell erzeugten Bedingungen beruhte.
Wie die Entscheidung hierüber zu treffen sei, darüber lässt sich allgemeines nicht sagen, da für
einen jeden Sinn die entsprechenden Massregeln zum Ausschluss abnormer Erregung wieder andere sind.
Die Unterscheidung der Sinne nach der Reizform ergibt so viel Sinne, als es Kräfte gibt,
welche normalerweise als Erregungsmittel für das Tier auftreten. Man wird auch zweckmässigerweise
danach die Bezeichnungen einrichten und in der Hauptsache von einem mechani schen, chemischen
, t hermis chen und Li c h t s i nn1) sprechen. Unter diese Bezeichnungen lassen sich sämtliche
uns bekannten Sinnesäusserungen im Tierreiche unterbringen. ’') In manchen Fällen wird es am
Platze sein, Unterabteilungen zu machen, so z. B. bei Landtieren den chemischen Sinn in Geruch
und Geschmack, den mechanischen Sinn in Tast-, Gehörs- und Gleichgewichtssinn zu zerspalten. Besonders
bei niederen Tieren werden aber diese spezielleren Unterscheidungen oft versagen und jene
beim menschlichen Organismus mit Recht unterschiedenen Sinne sieht man um so mehr ineinander
fliessen und ununterscheidbar werden, je niederer ein Tier in der Entwicklungsreihe steht. Ich benütze
daher oft jene, weitere Begriffe umfassenden Namen (mechanischer, chemischer, thermischer und
Lichtsinn), um damit anzudeuten, dass eine spezielle Unterscheidung entweder überhaupt nicht oder
nur jetzt noch nicht möglich sei.
*) Ick sage absichtlich L ic h t s in n und nicht G e s i c h t s s in n , denn zum Sehen, d. k. zum "VVahrnehmen der
Form von Gegenständen, und deren Lokalisation gehört eine Menge teils bewusster, teils unbewusster Urteile. Der soge-
nannnte Gesichtssinn ist also eine weit höhere psychische Fälligkeit als jene einfachen, von1 mir hier angenommenen Sinne,
welche man zweckmässig als „Primitivsinne“ bezeichnen könnte.
In ähnlicher Weise fallen die Begriffe: Raumsinn, Zeitsinn, Kraftsinn, Zeitsinn, Orientierungssinn, Gleichgewichtssinn,
Geschlechtssinn (Häckel) aus dem Rahmen einfacher, primitiver Sinnesthätigkeit heraus, sie sind „abgeleitete Sinne.“
Näheres über diese Frage s. u. A. in meiner früheren Abhandlung (216) pg. 62 f.
2) Elektricität kann ebenfalls als Reiz wirken. Gleichwohl ist es kaum zweckmässig, von einem elektrischen
Sinne zu sprechen, da es in der freien Natur nicht vorzukommen scheint, dass die Nervenendorgane elektrisch erregt
werden. Was wir als Äusserungen eines elektrischen Sinnes beobachten, ist bis jetzt ausschliesslich ein Künstprodukt
des physiologischen Laboratoriums. Doch könnte sich das einmal ändern.