Weder die Endorgane der Sinnesnerven noch die Sinnesnerven selbst reagieren auf jeden beliebigen
Nervenreiz in einer und derselben unveränderlichen Empfindungsqualität, sondern einzelne scheinen
durch nicht adäquate Reize gar nicht, andere in beschränkter Weise und nur unter besonderen Bedingungen
erregt zu werden. Noch weniger bestätigt sich der Satz von der spezifischen Energie,
wenn man damit die Annahme verbindet, die Verschiedenheit der Empfindung sei durch spezifisch
verschiedene physiologische Eigenschaften der Sinnesnerven verursacht, eine Annahme, die der
vorzugsweise durch J. Müller ausgebildeten Lehre von den spezifischen Energien ursprünglich zu
Grunde liegt.“
In schroffem Gegensätze hiezu steht die Ansicht Z ieh en ’s:')- (pg. 30 f.) „Zerren Sie den
Sehnerven, wie Sie wollen: immer dieselbe einfache Lichtempfindung! Ob diese Abstimmung vorzugsweise
in der Bahn oder im Zentrum stattfindet, ist fraglich; wahrscheinlich ist das letztere. Die
Hauptsache ist, dass überhaupt eine solche Abstimmung stattgefunden hat, sowohl im peripheren nicht
nervösen Apparat, wie in den Nervenenden, wie auf der Nervenbahn und schliesslich namentlich im
Zentrum. Dies ist der eigentliche Sinn der Lehre von der spezifischen Energie. Dieselbe zu leugnen,
widerspricht allen entwicklungsgeschichtlichen Grundsätzen. Diese letzteren besagen, dass jede Punktion
ihr Organ verändert, sich gewissermassen dasselbe erzieht. Wir haben also die Wundtsche Annahme
zu verwerfen, dass alle Bahnen und Zentralstationen funktionell indifferent seien und die in den
zentralen Zellen ausgelösten Prozesse nur deshalb verschieden seien, weil die Reize verschieden sind
und der Reizvorgang in seiner ganzen Individualität in die Nervenbahn aufgenommen wird.“
H ä ck e l kommt zu folgendem Schlüsse:
(125 pg. 25) „So bedeutungsvoll nun auch diese Lehre von der „„spezifischen Energie““ der
Sinnesnerven ist, so erleidet sie doch durch unsere neuere Entwickelungslehre eine wichtige Einschränkung.
Denn angesichts der keimesgeschichtlichen Thatsache, dass sich alle verschiedenen Sinneswerkzeuge
samt ihren spezifischen Nerven aus der äusseren Haut entwickeln, müssen wir zugestehen, dass
auch die besondere Leistungsfähigkeit der einzelnen Sinnesnerven nicht eine ursprüngliche Eigenschaft
derselben, sondern durch Anpassung e rworben ist.“
E. v. H a r t m a n n 2) spricht sich im Anschluss an W u n d t folgen dermassen aus:
(pg. 368) . . Der Versuch beweist ohne Zweifel, dass das Wichtigste für den Nervenprozess
die Schwingungsform ist, welche durch die peripherischen und zentralen Endorgane bestimmt
und der Faser überliefert wird, und dass von „„spezifischen Energien““ der Nerven hinfort nicht mehr
die Rede sein kann. Wenn andererseits Wundt zugibt (pg. 361 ff), dass die Uebung in Prozessen von
bestimmter Schwingungsform und Fortpflanzungsrichtung im Stande ist, die Nervenmasse mit einer
solchen molekularen Disposition zu imprägnieren, „„dass jede eintretende Erschütterung des Molekulargleichgewichts
gerade diese Form der Bewegung hervorruft,““ — wenn er ferner einräumen muss, dass
diese Anpassung nur zum Teil eine individuell erworbene ist, in der Hauptsache aber schon auf einer
angeborenen, ererbten Prädisposition beruht, so ist nicht ersichtlich, weshalb der ältere Ausdruck
„„spezifische Energie““ in dem erläuterten relativen Sinne nicht auch ferner beibehalten werden
sollte, — höchstens könnte man ihn in den anderen: „„spezifische Disposition““ umwandeln.“
Wieder anders ist die Anschauung von R. A rn d t:
(4. pg. 206). „Es . . . . ist in hohem Grade wahrscheinlich, dass die qualitativ verschiedenen
*) Tli. Z ieh en , Leitfaden der physiologischen Psychologie. 2. Auflage. Jena 1893.
2) E. v. Hartman», Philosophie des Unbewussten Bd. I.
Empfindlingen in chemisch verschiedenen Nerven zu Stande kommen oder wenigstens durch chemisch
verschiedene Nerven vermittelt werden und dass die quantitativ verschiedenen Empfindungen in verschieden
dichten Nerven entstehen, beziehungsweise durch sie ihre Vermittlung finden, oder auch,
dass sie auf verschiedener Grösse des sie auslösenden Stosses oder endlich auf letzteren beiden beruhen.“
Die Beispiele könnten noch vermehrt werden und man würde erkennen, dass heute fast jeder
Forscher die „spezifische Energie“ wieder in anderer Weise auffasst und zu erklären sucht. Es heisst
also, sich selbst den Weg suchen!
Es ist als zweifellos zu bezeichnen, dass mehrere Sinnesorgane des Menschen und mit ihm
der höheren Wirbeltiere spezifische Sinnesorgane sind. Z. B. das menschliche Gehörorgan wird normaler
Weise von keinem anderen Reize getroffen, als demjenigen, welchen die Schallwellen ausüben. Schallwahrnehmung
ist der alleinige Zweck und die einzige Fähigkeit des Endorganes des Nervus cocJilearis.
Es ist nun aber die Einwirkung heterologer Reize doch nicht ganz ausgeschlossen. Als ein solcher
kann in gewissem Sinne die mechanische Berührung des Trommelfells betrachtet werden, ebenso die
Wirkung einer Spannungsdifferenz zwischen der Luft innerhalb und ausserhalb der Paukenhöhle, wie
sie beim Schluckakte ein!ritt. Wahrscheinlich ist auch veränderte Blutzirkulation im Ohre zuweilen
Ursache von heterologer Reizung des Hörnerven. Alle diese heterologen Reize bewirken stets die
Empfindung eines Geräusches oder Schalles. Da nun bei diesen Vorgängen reelle, objektive Schallwellen
in der Luft ausserhalb des Ohres oder in der Substanz des Schädels nicht vorhanden sind, ist
jene Empfindung eine Sinnestäuschung. Kennten wir ihre Ursache nicht in den meisten Fällen als
eine nicht-akustische, so würden wir durch die Qualität der Empfindung zu falschen Schlüssen über
die Ursache derselben veranlasst. Thatsächlich geschieht dies auch nicht so ganz selten.
Ebenso verhält es sich mit dem Auge, wo Druck auf den Augapfel oder elektrische Durchströmung,
sowie auch manche pathologische Prozesse die dem Auge spezifische Empfindung des Lichtes
erzeugen, selbst im absolut dunklen Raume, wo objektiv keine Lichtschwingungen existieren.
Wir haben ferner auch einigen Grund zu der Vermutung, dass auch jede überhaupt wirksame
Reizung eines von einem spezifischen Sinnesorgane zum Gehirn führenden Sinnesnerven stets eine
solche Empfindung zur Folge hat, welche in dieselbe Kategorie, wie die durch adäquate Reizung des
Endorganes bewirkte Empfindung, gehört; d. h. Reizung des Sehnervenstammes erzeugt Lichtempfindung,
Reizung eines Hautnerven Tastempfindung u. s. f. Diese Erscheinung wird bekanntlich mit einem
von J o h a n n e s M ü lle r eingeführten Ausdruck als die sp e z ifis c h e E n e rg ie der S in n e sn
e rv en bezeichnet.
Die Eigenschaften der spezifischen Sinneswerkzeuge, welche die höchste Entwicklung des
Sinnesapparates darstellen, weichen von den im obigen skizzierten Eigenschaften der Sinnesorgane
niederster Tiere weit ab. Im Sinne der Descendenzlehre muss indessen angenommen werden, dass
zwischen beiden ein phylogenetischer Zusammenhang besteht, dass erstere sich aus letzteren herausentwickelt
haben. Zeugnis hiefür legt uns die Keimesgeschichte ab, indem aus den mit Universalsinnesorganen
ausgerüsteten ursprünglichen Keimzellen und den sinnesphysiologisch noch auf gleicher
Stufe stehenden mehrzelligen Embryonalstadien sich das fertige Tier mit seinen spezifischen Sinnesorganen
bildet. Zwar können wir beim Menschen und den höheren Wirbeltieren nicht wohl von
Ausübung von Sinnesthätigkeiten in den niedersten Embryonalstadien sprechen, wohl aber, wie wir
sahen, bei vielen wirbellosen Tieren. Die Samenzellen aller, die Eizellen einiger Tiere konnten wir
Bibliotheca zoologica. Heft 18.